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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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hielte meine Hand, spräche mit seiner beruhigenden Stimme zu mir. Ihn hatte ich bei meiner Aufzählung vergessen. Auch die Liebe der Toten zählte. Sie konnte uns keiner nehmen.
    Ein tröstlicher Gedanke, schlafen konnte ich noch immer nicht. Ich ahnte, dass ich noch Besuch bekommen würde. Es dauerte einige Minuten, in denen ich ruhig auf dem Sofa lag und den Insekten lauschte, bis ich sie hörte.
    Bitte, fahr wieder ab.
    Es war das erste Mal seit meiner Abreise, dass sich die Stimme meldete. Ich wusste, was sie wollte. Sie hatte mich in New York fortwährend vor dieser Reise gewarnt.
    – Auf keinen Fall. Ich bleibe hier.
    Tue es nicht. Geh fort. Schnell. Noch ist es nicht zu spät.
    – Warum?
    Ich kenne den Ort, an dem wir sind. Er wird großes Unglück über dich bringen.
    – Was für ein Unglück?
    Sie werden dich holen kommen.
    – Niemand wird mich holen kommen.
    Oh doch. Du kennst sie nicht.
    – Wen?
    Die schwarzen Stiefel. Sie kommen am Tage. Sie kommen in der Nacht. Sie kommen, wann sie wollen. Sie holen, wen sie wollen.
    – Mich nicht.
    Dich auch.
    – Mein Bruder würde mich schützen.
    Vor ihnen kann dich niemand schützen.
    – Ich bin eine Ausländerin.
    Das ist ihnen egal. Sie holen auch Alte, Frauen und Kinder, wenn sie wollen.
    – Was machen sie mit ihnen?
    Darüber gibt es viele Geschichten. Kaum einer ist da, um sie zu erzählen. Wer zurückkehrt, ist ein anderer.
    – Haben sie dich geholt?
    Nicht mich.
    – Sondern?
    Meinen Sohn. Das ist viel schlimmer. Auch wer zurückbleibt, ist ein anderer.
    – Wo finde ich die schwarzen Stiefel?
    Sie finden dich. Wenn sie kommen, schau ihnen nicht ins Gesicht. Schau ihnen nicht auf die Stiefel.
    – Warum nicht?
    Weil sie magische Kräfte besitzen. In ihnen spiegelt sich alles Grauen, alles Böse, zu dem wir fähig sind.
    – Wer sind »wir«?, unterbrach ich sie.
    Wir Menschen. In der Welt, die du im blank geputzten Leder der Stiefel siehst, gibt es keine Vergebung und keine Liebe. In ihr gibt es nur Angst und Hass. Es gibt Anblicke, die ertragen wir nicht. Sie machen uns zu anderen Menschen. Schau nicht hin.
    So viel hatte sie noch nie von sich preisgegeben. Ich wartete lange, ob sie weitersprechen würde.
    – Wer bist du? Woher kommst du?
    Schweigen.
    Es war immer dasselbe. Sobald ich von der Stimme etwas über ihre Herkunft und Geschichte wissen wollte, verstummte sie. Wie heißt du? Wo wurdest du geboren? Wo hast du gelebt? Auf keine dieser Fragen hatte sie bisher auch nur mit einer Andeutung geantwortet. Nun wusste ich immerhin, dass sie Kalaw kannte, einen Sohn gehabt hatte und dass ihn die schwarzen Stiefel, wer immer sie waren, geholt hatten.
    Sag ihm nichts von mir. Kein Wort.
    – Wem?
    Deinem Bruder.
    – Kennst du ihn?
    Schweigen.
    – Ich werde ihm alles erzählen. Deshalb bin ich hier. Er wird mir helfen, dich zu finden.
    Mich gibt es nicht mehr. Ich bin tot.
    – Herauszufinden, wer du warst. Warum du gestorben bist.
    Das darfst du nicht.
    – Warum nicht?
    Das wird alles nur noch schlimmer machen.
    – Was? Sag es mir!
    Du würdest das gleiche Schicksal erleiden wie ich.
    – Welches Schicksal?
    Das kann ich nicht sagen. Es muss ein Geheimnis bleiben. Für immer.
    – Du willst mir Angst machen. Aber das gelingt dir nicht.
    Ich will dir keine Angst machen. Ich will dich warnen. Du darfst nicht nach mir suchen. Du musst morgen zurück nach New York fliegen.
    – Dann sag mir, wie du gestorben bist.
    Nein. Niemals.
    – Hat dich jemand ermordet?
    Stille.
    – Die schwarzen Stiefel? Haben sie dich getötet?
    Nichts.
    – War es ein Unfall? Warst du alt und krank? Hast du dich selber umgebracht?
    Die Stimme schwieg beharrlich.
    – Wenn du es mir nicht sagst, finde ich es selbst heraus.
    Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet.
    Irgendwann fielen mir die Augen zu.
    Ich erwachte mitten in der Nacht von den leiernden Klängen einer Geige. Beethovens Violinkonzert, jetzt, im Halbschlaf, erkannte ich es auf Anhieb.
    Der Strom war wieder da.
    Ich hörte meinen Bruder husten, drehte mich um und schlief weiter.

13
    I ch erwachte von ungewohnten Geräuschen. Vogelgezwitscher, ein grunzendes Schwein, krähende Hähne. Kinderstim men. Es dauerte einige Sekunden, bis ich sie einordnen konnte und wusste, wo ich war. Ich musste lange geschlafen haben. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war warm, mein Magen drückte vor Hunger.
    Vor dem Haus fegte jemand den Hof. Ich stand auf und ging ans glaslose Fenster. U Ba machte den Garten sauber, als er

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