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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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gehen.«
    »Ich fürchte, das wäre die reinste Zeitvergeudung, und auch wenn ich davon genug besitze, widerstrebt es mir, sie zu verschwenden. Wir haben hier keine Doktoren, die sich mit trockenem Husten beschäftigen. Wir haben nur zwei Krankenhäuser, eins für Notfälle und eins für die Armee. Die einen können die Kranken nicht heilen, die anderen helfen nur ihren eigenen Kranken. Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Ernstes. In ein paar Tagen ist er wieder weg. Sag mir lieber, ob ich dir helfen kann.«
    »Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauche?«
    »Das sehe ich in deinen Augen. Ich sehe es an der Art, wie du mich anlächelst. Ich höre es in deiner Stimme, und unser Vater würde vermutlich behaupten, er höre es am Pochen deines Herzens.«
    Ich nickte stumm.
    Ich dachte an alles, was die Stimme mir in der vergangenen Nacht gesagt hatte. Was war, wenn sie recht hatte? Wenn die Suche nach ihr gefährlich werden würde? Wenn sich hinter ihrem Leben und Tod ein Geheimnis verbarg, das nicht gelüftet werden durfte? Wer könnte mich schützen, wenn es gefährlich wurde? U Ba mit Sicherheit nicht. Die amerikanische Botschaft in Rangun war weit weg. Ich hatte nicht einmal ein Telefon, um sie im Notfall zu benachrichtigen. Aber ich war nicht um die halbe Welt gereist, um mir jetzt Angst machen zu lassen. Ich musste wissen, welches Schicksal sich hinter der Stimme in mir verbarg.
    »Du hast recht, mir geht es nicht gut.«
    Und so erfuhr auch U Ba von dem Buch der Einsamkeit. Von einem Versprechen, streichholzgroß. Von den mächtigen Flügeln der Lüge, die den Himmel verdunkelten, bis er schwarz war. Den Farben der Trauer. Denen der Furcht. Der Stimme und ihren Fragen. Von der Macht der schwarzen Stiefel. Und dem Fluch der Angst.
    Atemlos hatte ich erzählt.
    Atemlos hatte er mir zugehört.
    Nun runzelte er besorgt die Stirn, kratzte sich am Kopf und schloss die Augen.
    Sein schmächtiger Körper versank in dem schweren Ledersessel. Seine Wangen waren ein wenig eingefallen, die Augen tief in ihren Höhlen versteckt. Die dünnen, tiefbraunen Arme, die nicht verrieten, wie schwer sie noch tragen konnten, hingen an ihm herab. Schutzbedürftig sah er aus.
    »Ich glaube, ich kann dir helfen«, sagte er unvermittelt und schaute mich ernst an.
    »Kennst du die Stimme?«, fragte ich überrascht.
    »Nein.«
    »Weißt du, wer die schwarzen Stiefel sind?«
    U Ba zögerte. Dann schüttelte er sehr langsam den Kopf und ließ mich dabei nicht aus den Augen.
    Ich war mir nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagte.
    »Aber ich weiß, wo wir mit unserer Suche beginnen müssen.«

Zweiter Teil

1
    U Ba war tief in Gedanken versunken. Aus seinem federnden Schritt war jede Leichtigkeit gewichen, er lief schnell, fast gehetzt durch Kalaw. Menschen, die uns grüßten, schenkte er kaum Beachtung, meine Fragen beantwortete er so einsilbig, dass ich irgendwann verstummte.
    Wir gingen am Teehaus vorbei, an der Moschee und dem Kloster, in dem unser Vater als Novize gelebt hatte, bogen bei dem großen Banyanbaum links ab und folgten der Straße, bis wir einen ausgetretenen Pfad einschlugen, der uns einen Hügel hinauf an das andere Ende des Ortes führte.
    Vor den überwucherten, morschen Resten einer Gartenpforte blieben wir stehen. Mein Bruder schob mit einem Arm die Zweige beiseite, wir traten in einen kleinen Hof, in dem neben einer Hütte Bananenstauden, ein Papayabaum und mehrere Palmen wuchsen. Das Häuschen stand auf knapp einen Meter hohen Bambuspflöcken mit Wänden aus getrockneten Gräsern. Ein paar Stufen führten zu einer winzigen Veranda, auf deren Geländer ein roter Longy und eine weiße Bluse zum Trocknen in der Sonne hingen.
    U Ba rief einen Namen und wartete. Er rief ihn ein zweites Mal.
    Khin Khin war eine Frau, deren Alter ich nicht schätzen konnte. Sie mochte fünfzig sein oder auch bald achtzig. Ihre dunklen Augen waren klein und schmal, tiefe Falten durchzogen Wangen und Stirn, eine breite Narbe teilte ihr Kinn in zwei ungleichmäßige Hälften.
    Das Gesicht eines gelebten Lebens.
    Um den Kopf hatte sie sich ein rosafarbenes Handtuch gewickelt, in der Hand hielt sie eine qualmende Zigarre.
    Weshalb hatte mein Bruder mich hierher geführt? Was verband mein Schicksal mit dem ihren?
    Sie begrüßte U Ba mit einem überraschten Lächeln und bat uns mit einer einladenden Handbewegung hinein. Ihre Hütte bestand nur aus einem Raum, in einer Ecke lagen zusammengerollt Decken und ein paar Kleidungsstücke, darüber hing

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