Herzenstimmen
mich sah, legte er den Besen beiseite und eilte die Treppe hoch.
»Guten Morgen. Hast du wohl geruht?«
Ich nickte verschlafen.
»Du bist bestimmt kurz vor dem Verhungern.«
Ich nickte noch einmal.
»Dann bereite ich schnell das Frühstück zu. Eine Dusche habe ich nicht, aber du kannst dich im Brunnen auf dem Hof waschen.«
Er gab mir einen Longy und ein altes Handtuch und verschwand in der Küche. Ich zog mich aus, streifte den Stoff über und zog ihn so hoch, dass er von den Knien bis unter die Arme reichte.
Der Brunnen war ein dünnes Wasserrohr, das vom Nachbargrundstück durch die Hecke herüberreichte und über einem großen, betonierten Becken endete. Daneben standen zwei rote Plastikeimer und eine große weiße Schale aus Emaille. Ich füllte die Schale und goss sie mir mit beiden Händen über den Kopf. Das Wasser war, trotz der milden Luft, bitterkalt. Nach dem dritten Mal hatte ich mich dran gewöhnt, nach dem fünften Guss genoss ich die erfrischende Abkühlung, wusch mich gründlich und war hellwach.
Als ich zurück ins Haus kam, stand das Frühstück auf dem Tisch vor dem Sofa. Zwei Becher mit heißem Wasser, daneben Tütchen mit Nescafé, zwei Stück Würfelzucker und Dosenmilch. U Ba hatte Rühreier mit Tomaten und Paprika gemacht, auf einem Teller lagen getoastete Scheiben Weißbrot, auf denen ein daumendickes Stück Butter schmolz.
»Es sieht wunderbar aus, danke. Wie lieb von dir. Wo hast du denn die Butter her?«
Mein Bruder lächelte erfreut. »Die habe ich heute Morgen bei einem Freund in einem Hotel geholt.«
Wir setzten uns, das Ei war köstlich, selbst der Kaffee schmeckte, und erst nach der zweiten Scheibe Brot fiel mir auf, dass mein Bruder nichts aß. »Hast du keinen Hunger?«
»Ich warte, bis du fertig bist.«
»Warum das denn?«
»Man isst nicht mit den Gästen zusammen. Man wartet, bis sie satt sind. Das ist bei uns so üblich. Bei euch nicht?«
Ich musste lachen. »Nein, das wäre sehr unhöflich. Bei uns essen alle gemeinsam. Außerdem bin ich kein Gast, sondern Familie, oder nicht?«
Er lächelte zustimmend und nahm sich bedächtig etwas Ei und ein Stück Brot.
Wir aßen zusammen. Wortlos. Ihn schien es nicht zu stören. Mich machte die Stille wieder befangen.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte ich, um das Schweigen zu beenden.
Mein Bruder überlegte so lange, dass ich gespannt auf seine Antwort wartete.
»Gut«, sagte er schließlich.
»Gut?«
»Ja, gut. Der Buddha sagt: ›Gesundheit ist das größte Ge schenk. Zufriedenheit ist der größte Reichtum. Vertrauen ist der beste Verwandte.‹ Ich bin gesund und zufrieden. Mein Vertrauen ist unerschütterlich. Und wie du siehst«, er breitete die Arme aus und ließ seinen Blick einmal durch das Zimmer schweifen, »fehlt es mir an nichts. Worüber sollte ich also klagen?«
Ich schaute mich ebenfalls um. »Mir würden schon ein paar Dinge einfallen, die du gebrauchen könntest«, sagte ich halb im Scherz.
»So?«, erwiderte er überrascht.
»Eine Dusche zum Beispiel. Warmes Wasser. Eine Kochplatte, oder nicht?«
»Du hast recht. Diese Dinge würden mein Leben bequemer machen. Aber brauche ich sie?«
U Ba kratzte sich nachdenklich mit der linken Hand auf der rechten Seite des Kopfes. Die gleiche Geste kannte ich von unserem Vater, wenn er intensiv über etwas nachdachte. »Ich glaube nicht.«
Er hielt sich die Hand vor den Mund und hustete.
»Seit wann hast du diesen Husten?«, wollte ich wissen.
»Das weiß ich nicht. Ein paar Wochen wahrscheinlich. Vielleicht etwas länger.«
»Hast du Fieber?«
»Nein.«
»Schnupfen oder Halsschmerzen?«
»Nein.«
»Tut es weh?«
»Nicht der Rede wert.«
Ich musste an Karen denken. Eine Kollegin aus der Kanzlei, einige Jahre älter als ich, die einzige weibliche Partnerin bei Simon & Koons. Sie hatte sich wochenlang mit einem trockenen Husten herumgequält, der ähnlich geklungen hatte wie der meines Bruders. Karen hatte kein Fieber, keine anderen Erkältungssymptome gehabt, ihn für eine allergische Reaktion gehalten und war nicht zum Arzt gegangen. Als sie es endlich tat, entdeckte der Radiologe einen Rundherd auf ihrer Lunge, ein Hinweis auf Lungenkrebs. Die folgenden Untersuchungen bestätigten die Vermutung. Ein halbes Jahr später war sie tot.
»Warst du beim Arzt?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Er tauchte von alleine auf und wird, wenn es an der Zeit ist, auch wieder verschwinden.«
»Du solltest trotzdem sicherheitshalber zum Arzt
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