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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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sei. Kein Mensch war so empfindlich.
    Was wusste er vom Körper und den Empfindungen einer Frau?
    Etwas an diesem Morgen war anders gewesen. Es war nicht die Art, wie er sich bewegte, obgleich er es dieses Mal besonders heftig und leidenschaftlich tat. Es war auch nicht die Weise, wie er ihr Lust bereitete und dann befriedigte.
    Ein Gefühl hatte ihren Körper durchflutet, für das sie keinen Namen hatte und das sie nicht beschreiben konnte.
    Als es vorbei war, lagen sie schwer atmend nebeneinander, Nu Nu zitterte, ihr liefen Tränen über das Gesicht, ohne dass sie es gleich bemerkte.
    Maung Sein erschrak und fragte, ob er ihr in seiner Zügellosigkeit womöglich wehgetan hatte.
    Nein, sagte sie, überhaupt nicht.
    Warum sie denn weine?
    Vor Glück, erklärte sie. Vor Glück.
    Er nahm sie in den Arm, und sie weinte nur noch heftiger.
    Später würde sie häufig an diesen Moment zurückdenken und sich fragen, ob es wirklich Tränen der Freude waren. Oder hatte sie an diesem Morgen im tiefsten Inneren ihrer Seele bereits eine Ahnung davon gehabt, wie alles enden würde? Dass zu jedem großen Glück auch ein großes Unglück gehörte. Dass jedem Anfang bereits sein Ende innewohnte, dass es Liebe ohne den Schmerz des Abschieds nicht gab; dass jede Hand irgendwann erkaltete.
    Hatte sie, trotz aller Kümmernisse in den ersten Jahren ihres Lebens, zum ersten Mal mit dem Herzen verstanden, was der Buddha lehrte: dass Leben Leiden bedeutete. Dass nichts von Dauer war.
    »Sag etwas«, flüsterte Nu Nu.
    Maung Sein stützte sich auf einen Ellenbogen und strich besorgt über ihr Haar.
    »Was soll ich sagen?«
    »Irgendetwas«, flehte sie. »Ich möchte deine Stimme hören.«
    »Ich liebe dich.«
    Sie klammerte sich an ihren Mann. Maung Sein sagte diesen Satz nicht oft. So wie er ihn jetzt aussprach, klang er wie ein Geschenk.
    »Noch einmal. Bitte.«
    »Ich liebe dich.«
    Sie klammerte sich mit einer Kraft an ihn, als fürchte sie, irgendwo zu versinken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verletzlich und schutzlos gefühlt. Warum in jenem Moment, in dem ihr sehnlichster Wünsch in Erfüllung zu gehen begann? Warum konnte sie das neue Leben nicht einfach nur willkommen heißen?
    »Ich liebe dich auch.«
    Nu Nu blieb auch in den folgenden Tagen außerordentlich empfindlich. Sie schlief schlecht ein und erwachte noch früher als sonst. Auf dem Markt und dem Feld mied sie die Blicke der anderen und war froh, wenn, abgesehen von ihrem Mann, niemand sie ansprach. Ihre Haut revoltierte. Rote Flecken überall. Sie kratzte, bis das Blut Arme und Beine hinunterrann.
    Noch schlimmer als die Schwermut und das Jucken waren die Ängste, die sie plagten, ohne dass es dafür erkennbare An lässe gab. Es war eine diffuse Angst, die sich immer wieder neue Gründe suchte. Mal fürchtete sie, dass Maung Sein von einem kurzen Besuch bei den Nachbarn nicht lebend zurückkehren würde, weil er auf eine Kobra getreten war. Mal erwachte sie mitten in der Nacht und geriet in Panik, überzeugt, dass Maung Sein neben ihr nicht mehr atmete. Der Anblick eines Brunnens ängstigte sie, weil er so tief in die Finsternis hinab führte, der viele Regen, weil er das ganze Dorf fortspülen könnte. Die Welt war schon immer voller Gefahren und Bedrohungen gewesen, jetzt war es nur eine Frage der Zeit, wann sie einer davon zum Opfer fielen.
    Maung Sein bemühte sich in diesen Wochen noch mehr als sonst um seine Frau. Er stand morgens vor ihr auf, um für die Mönche zu kochen. Er holte das Wasser vom Brunnen des Dorfes, begleitete sie zum Markt und war dabei gesprächig wie nie, um sie von ihrem Kummer, dessen Ursache er nicht kannte, abzulenken. Auf dem Feld ließ er sie nicht aus den Augen. Sobald er den Eindruck hatte, die Arbeit überfordere sie, brachte er sie nach Hause und blieb bei ihr.
    Aber am Ende war es nicht Maung Sein, der ihr half. Es war die Gewissheit, dass etwas in ihr wuchs. Es war das Gefühl, Leben zu geben, auch wenn es dafür äußerlich noch nicht die geringsten Anzeichen gab. Ein leichtes Ziehen im Bauch am frühen Morgen, ein sanfter Druck in ihren Brüsten, das waren zunächst die einzigen Hinweise auf eine Veränderung.
    Aber mit jedem Tag gewann sie mehr Zutrauen in das, was mit ihr geschah, und nach zwei Monaten waren sowohl die Furcht als auch jede Traurigkeit verflogen. Sie bekam ein Kind. Einen Sohn. Er wird gesund sein und sie die Entbindung überleben – das hatte ihr nicht nur der Astrologe prophezeit, das spürte sie.

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