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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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überzeugt. Bis jene Dinge geschahen, die sie zweifeln ließen. Für immer. An allem.
    Die dem Leben seinen Sinn entzogen, wie Salz dem Körper die Flüssigkeit entzieht, bis er zugrunde geht.
    Aber das war später, viel später.
    Jetzt standen das Curry und der dampfende Reis vor ihr. Sie füllte einen Becher mit Tee, hockte sich wieder in den Türrahmen und wartete auf die Prozession der Mönche oder darauf, dass ihr Mann erwachte; dass er sich streckte und zu ihr drehte, sie aus verschlafenen Augen anschaute, bis ein Lächeln über sein Gesicht flog.
    Der Regen ließ allmählich nach, und Nu Nu beobachtete, wie einige trockene Blätter von einem Baum in eine Pfütze am Fußende der Treppe fielen. Kleine Bötchen, die in einem Sturm schaukelten, traktiert von bohnengroßen Regentropfen, die ein Blatt nach dem anderen versenkten. Nur eines weigerte sich unterzugehen, egal wie oft es getroffen wurde. Nu Nu schloss die Augen und zählte bis zehn. Wenn es dann, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, noch schwimmen würde, war es kein Zufall mehr, sondern ein Zeichen.
    Sie zählte extra langsam. Bei fünf wurde sie ein wenig unruhig, bei acht überlegte sie, worauf es ein Hinweis sein könnte. Als Nu Nu die Augen öffnete, schwamm das graubraune Blättchen noch immer in der Mitte der Pfütze. Sie stieg die Stufen hinunter, fischte es aus dem Wasser und betrachtete gründlich seine Form und Musterung. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Auffälliges erkennen. Sie wendete es. Auf der Rückseite waren zwei schwarze Punkte, die sie wie kleine Augen anstarrten. In der Mitte des Blattes setzte sich der Stiel fort, es sah aus wie eine Wirbelsäule. Sie hielt es gegen den trüben Himmel und sah im Licht deutlich die vielen verästelten Seitenrippen, die das Blatt wie kleine Äderchen durchzogen.
    Augen. Wirbelsäule. Adern.
    War dieses vertrocknete Blättchen ein Hinweis auf ein Kind? Warum nicht? Es sollte von ihr entdeckt und entziffert werden, weshalb sonst weigerte es sich, auf den Grund zu sinken wie die anderen?
    Nu Nu wollte eine Bestätigung ihre r Vermutung. Sie betrach tete das Blatt noch einmal, beugte sich vor und ließ es aus der Hand gleiten. Sollte es in die Pfütze fallen und sich gegen den Regen ein zweites Mal behaupten, würde sie nicht mehr zweifeln. Die normale Flugbahn des Blattes hätte es irgendwo unter die Treppe tragen müssen, doch der Wind änderte die Richtung. Es segelte genau in die Pfütze, in der jetzt wieder eine Handvoll anderer Blätter trieben. Nu Nu schloss die Augen noch einmal und zählte, um sicherzugehen, bis achtundzwanzig. Acht war ihre Glückszahl, die Zwei davor verdoppelte ihr Glück.
    Als sie die Augen wieder öffnete, waren alle Blätter ver schwunden, bis auf eines. Sie erkannte es sofort.
    Die Welt war voller Zeichen. Man musste sie nur sehen und deuten können.
    Seit zwei Jahren wartete Nu Nu auf ein Kind, um genau zu sein, auf einen Sohn. Nach der Hochzeit war die Schwangerschaft für sie nur eine Frage von Wochen, höchstens einigen wenigen Monaten gewesen. Als sie nach einem halben Jahr an ihrem Körper noch immer keine Veränderungen beobachtete, fragte sie ihre Mutter, die ihre Tochter zur Geduld ermahnte.
    Nach einem Jahr zog sie den Medizinmann des Dorfes zurate, der ihr mit diversen Kräutern und Tees zu helfen versuchte, ohne Erfolg.
    Sie befragte den Astrologen, der sehr gründliche Berechnungen anstellte und ihr die günstigsten Tage zur Empfängnis nannte, die sie nicht ungenutzt verstreichen ließ, mit dem einzigen Ergebnis, dass am Ende Maung Seins Genitalien schmerzten.
    Sie nahm einen Tagesmarsch in die nächste Stadt in Kauf, weil dort ein Sterndeuter lebte, der für seine außergewöhnlichen Fähigkeiten weithin bekannt war. Auch er befragte Bücher und Tabellen, versicherte ihr, dass sie einen gesunden Sohn gebären werde, dem bald darauf ein zweiter, ebenfalls gesunder Junge folgen würde. Nur wann, das konnte er ihr nicht mit letzter Sicherheit sagen, zu widersprüchlich waren die Auskünfte, die er aus seinen Kalkulationen ermittelte. Es könnte noch dauern, möglicherweise einige Jahre.
    Nu Nu kehrte tief enttäuscht in ihr Dorf zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Sohn. Die meisten Nachbarstöchter und Freundinnen in ihrem Alter waren bereits Mütter. Einige Jahre, hatte der Astrologe gesagt. Eine fast unvorstellbar lange Zeit. Oder irrte er, und sie gehörte zu den wenigen bedauernswerten Frauen, die, egal was sie versuchten, gar

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