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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Bruder Hilfe suchend an.
    »Er möchte wissen, warum du dich für Thar Thar interessierst«, übersetzte er.
    Die Frage hatte ich erwartet und mir, um mich nicht als Stimmenhörerin lächerlich zu machen, eine komplizierte Geschichte ausgedacht von entfernten Verwandten Thar Thars, die jetzt in Amerika lebten, zufällig meine Nachbarn seien und mich gebeten hatten … Doch bevor ich etwas erwidern konnte, antwortete U Ba für mich.
    »Was sagst du ihm?«, unterbrach ich ihn.
    »Dass du die Stimme seiner verstorbenen Mutter hörst und unbedingt wissen musst, was mit Thar Thar geschehen ist, weil sie sonst keine Ruhe gibt.«
    Maung Tun nickte mir voller Verständnis zu, als wäre mein Anliegen das Selbstverständlichste der Welt. Er machte eine lange Pause, bevor er ein paar Sätze sagte und meinen Bruder mit einer Handbewegung bat zu übersetzen.
    »Er sagt, dass er über seine Zeit als Träger nicht gerne spricht. Selbst seine Frau weiß darüber nichts. Aber für Nu Nu macht er eine Ausnahme. Sie soll wissen, was mit Thar Thar geschehen ist. Sie soll wissen, was für ein Held ihr Sohn war.«
    Ich dankte ihm. Auch im Namen von Nu Nu.
    Maung Tun drückte seine Zigarette aus, beugte sich vor und begann zu erzählen.

22
    D ie Soldaten hatten auf einem Feld vor dem Dorf Stacheldraht ausgerollt und uns damit eingezäunt. Es war eine kalte Nacht, wir hockten eng in einem Kreis zusammen, um uns gegenseitig zu wärmen. Thar Thar und Ko Gyi saßen direkt neben mir, ich kannte beide gut, wir waren gleich alt und hatten als Kinder oft zusammen gespielt. Thar Thar nahm seinen Bruder in den Arm, der am ganzen Körper zitterte. Die Soldaten hatten uns verboten zu sprechen, niemand sagte ein Wort, ich hörte nur das laute Keuchen der Angst. Plötzlich rief ein Soldat in die Stille, Ko Gyi und Thar Thar sollten zum Tor kommen. Die beiden standen auf, und im Schein des Mondes erkannte ich ihre Mutter, die auf sie wartete. Sie standen nicht weit entfernt und flüster ten. Ko Gyi schüttelte immer wieder den Kopf, Nu Nu weinte. Irgendwann nahm sie ihn an die Hand und wollte ihn fortziehen. Er wehrte sich. Dann standen sich die beiden Brüder noch einmal gegenüber, Ko Gyi hängte etwas um Thar Thars Hals, zwei Soldaten kamen dazu, befahlen Nu Nu, endlich zu verschwinden, und scheuchten Mutter und Sohn fort in die Dunkelheit.
    Thar Thar blickte ihnen nach. Er blieb am Stacheldraht zurück, regungslos. Minutenlang. Mehrmals riefen die Wächter, er solle endlich zu den anderen zurückgehen und sich wieder setzen, sofort!, aber Thar Thar reagierte nicht. Erst als ein Soldat ihm einen Gewehrkolben voller Wucht in die Seite stieß, zuckte er, drehte sich um und kam wieder zu uns. Als ich sein Gesicht sah, erschrak ich. Seine Augen wirkten größer, seine Wangen waren eingefallen, er war bleich und zitterte nun selbst.
    Er stand in unserer Mitte und schaute weiter in die Richtung, in der seine Mutter und sein Bruder verschwunden waren. Die Soldaten stießen üble Drohungen aus, einige von uns versuchten, ihn an den Händen herunterzuziehen, doch er schüttelte uns ab. Irgendwann wurde es still, und ich schlief ein. Thar Thar stand noch, als ich bei Anbruch des Tages wieder erwachte.
    Auf dem Lastwagen, der uns in die Kaserne brachte, kauerten Thar Thar und ich nebeneinander. Er saß zusammengesunken auf der Pritsche, hielt sich nicht fest, der Wagen wackelte heftig, sein Kopf knallte immer wieder gegen die Wand, bis das Blut über sein Gesicht rann. Im Auto stank es fürchterlich, weil sich einige von uns übergeben mussten. Thar Thar sah aus, als bemerkte er weder das Blut noch den Gestank.
    Im Militärlager teilte uns ein Offizier in zwei Einheiten. Die einen mussten gleich auf einen anderen Armeetransporter und fuhren weiter, ich kam mit Thar Thar in die kleinere Gruppe, die in der Kaserne blieb. Erst später erfuhr ich, dass uns das zunächst das Leben rettete. Die anderen wurden gleich weiter an die Front gebracht, und soweit ich weiß, überlebte keiner von ihnen die nächsten Monate.
    Uns teilte der Offizier noch einmal in kleinere Gruppen. Wer ein wenig Erfahrung als Schlosser oder Handwerker hatte, kam in die Werkstatt, andere in die Wäscherei, Thar Thar fragten sie, ob er kochen könne. Als er nickte, schickten sie ihn in die Küche und mich gleich mit.
    Wir blieben fast zwei Jahre in der Kaserne. Im Vergleich zu dem, was folgen sollte, ging es uns dort gut. Sie schlugen uns selten ohne Grund, es gab fast immer genug zu essen, wir

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