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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Familie?«
    Ich schüttelte den Kopf und wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Bruder saß ein paar Stühle entfernt, ich war sicher, dass er verstand, was der Arzt sagte. Ich versuchte, einen Blick mit ihm zu wechseln, doch er starrte auf den Boden.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich ratlos.
    »Warten.«
    »Worauf?«
    Meine Fragen waren ihm sichtlich unangenehm. Er vermied es, mich anzuschauen, wippte unaufhörlich mit den Beinen, und der rechte Daumen massierte die linke Hand, dass es knackte.
    »Auf die nächsten Symptome.«
    »Was könnten das für welche sein?«, fragte ich vorsichtig.
    »Ich gebe ihnen Antibiotika mit. Wenn es nur eine Bronchitis ist, wird es ihm in ein paar Tagen langsam besser gehen.«
    »Und wenn nicht?«
    »Dann hat er irgendwann Blut im Hustenschleim. Vermutlich eher früher als später. Schmerzen in der Brust, Schmerzen unter den Achseln.«
    »Und dann?«
    Der Arzt hob den Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Es lag nicht der Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht.
    »Und dann?«, wiederholte ich ganz leise.
    Er antwortete nicht.
    Wir nahmen vor dem Krankenhaus ein Taxi, U Ba bat den Fahrer, uns zum nächstgelegenen Hotel zu bringen. Es war noch immer sehr warm, der Wagen hatte eine Klimaanlage, doch die funktionierte nicht. Einige Schlaglöcher schüttelten uns kräftig durch, der Fahrer lächelte mir im Rückspiegel zu. Die Straßen waren voller Menschen, die herumschlenderten oder in Straßenrestaurants hockten.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Es war nicht meine Absicht, ich wollte nur, ich wusste nicht …«
    Mein Bruder schaute in Gedanken versunken aus dem Fenster, nahm meine Hand, drückte und streichelte sie.
    »Es war das erste Mal, dass ich jemanden bestochen habe«, sagte er unvermittelt, wie zu sich selbst.
    »Du hast niemanden bestochen«, widersprach ich.
    »Doch. Den Arzt.«
    »Warum du? Ich habe ihm das Geld gegeben.«
    »Das ist egal.«
    »Wieso ist das egal?«
    »Weil du es für mich getan hast. Ich habe davon profitiert.«
    »Aber es war mein Geld und meine Idee. Du konntest gar nichts dafür. Ich habe dich ja nicht einmal gefragt.«
    »Ich hätte aufstehen müssen und gehen.«
    »Aber U Ba!« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Nein, nein. Ich habe es geschehen lassen und bin deshalb dafür so verantwortlich wie du«, sagte er nachdenklich. »Wir sind nicht nur für unsere Taten verantwortlich, sondern auch für das, was wir nicht tun.«
    »Es … es tut mir leid. Ich wollte dir keine Probleme bereiten. Ich wollte dir nur helfen.«
    »Ich weiß.« Er drückte meine Hand noch einmal.
    Ich holte die Tabletten aus meiner Tasche. »Davon sollst du morgens und abends eine nehmen.«
    Er warf einen Blick auf die Schachtel, schüttelte den Kopf und gab sie mir zurück.
    »Das sind Antibiotika. Wenn es eine Bronchitis ist, werden sie dir helfen.«
    »Ich nehme keine Tabletten.«
    »Warum nicht?« Er kam mir vor wie ein störrisches Kind.
    »Weil die meisten unserer Medikamente aus China kommen und gefälscht sind. Es ist nicht das drin, was draufsteht. Sie schaden mehr, als dass sie nutzen.«
    Ungläubig schaute ich mir die Packung mit ihren chinesischen und burmesischen Schriftzeichen an. »Aber die hat uns der Arzt gegeben. Ich kann mir nicht vorstellen, ich meine, der wird doch nicht …«
    »Was soll er uns sonst geben? Andere hat er nicht. In Kalaw im Krankenhaus sterben Patienten an solchen Pillen.«
    Das Taxi hielt vor einem heruntergekommenen Gebäude, über dessen Eingang ein rotes Neonschild flimmerte. Darüber wuchsen Pflanzen aus der Fassade. Die Fenster in den unteren Stockwerken waren dunkel und vergittert, vor der Tür lag ein stinkender Haufen Müll.
    Ich warf meinem Bruder einen zweifelnden Blick zu. »Gibt es in der Nähe vielleicht noch ein anderes Hotel?«
    Er betrachtete den Eingang ebenso skeptisch wie ich, wechselte ein paar Sätze mit dem Fahrer, der nickte kurz und fuhr weiter.
    Wenige Minuten später bogen wir in die Auffahrt eines modernen fünfstöckigen Hotels ein. Ein Page kam beflissen zum Wagen geeilt, öffnete die Tür, ein anderer nahm mir die Tasche und den Rucksack aus den Händen, zwei weitere hießen uns im Chor willkommen und hielten die schwere Glastür auf. In der großen Lobby war es kalt und leer. In der Mitte stand ein Weihnachtsbaum, dessen künstliche Kerzen und rote Kugeln sich auf dem blank polierten Fußboden spiegelten. Mehrere Bedienstete verneigten sich, der Concierge begrüßte uns noch einmal und geleitete mich

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