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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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unauflöslichen Widerspruch zueinander. Erst viel später verstand ich, wie treffend seine Bezeichnung war. Wie schwierig es war, sich des Gutgemeinten zu erwehren. Ganz zu entkommen war ohnehin nicht möglich. Dafür war der Schatten des schlechten Gewissens zu lang.
    Die Bemerkung meines Vaters hätte auch von Amy stammen können. Wie mochte es ihr gehen? Seit meiner Abreise vor zehn Tagen hatten wir keinen Kontakt gehabt, es war Jahre her, dass wir so lange nicht miteinander gesprochen hatten. Was würde sie sagen, wenn sie mich auf diesem Bett sitzen säße? Zu den Geschichten, die wir gehört hatten?
    »Ich frage mich, ob diese Stimme auch einen Nutzen haben könnte?«
    Ja, Amy, könnte sie. Hat sie. Einen großen sogar.
    Ich vermisste ihre Ich-frage-mich-Sätze.
    Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, deinen Bruder in ein Kran kenhaus zu schleppen, das ihn nicht behandeln kann?
    Ich frage mich, was du dir dabei denkst, einen ehrlichen Arzt so in Versuchung zu bringen?
    Ich frage mich, ob gut gemeint jemals eine Entschuldigung für irgendetwas sein kann?
    Warum rief ich sie nicht einfach kurz an? In New York musste es jetzt früher Nachmittag sein. Ihre Stimme, ein paar Sätze von ihr, die mir helfen könnten in meiner Angst um meinen Bruder, mehr wollte ich nicht. Ich ging zum Schreibtisch, nahm den Hörer. 00 1 2 12-2 54 19 73, eine der wenigen Nummern, die ich noch auswendig kannte. Zögernd hielt ich inne. Die Vorstellung, nur ein paar Ziffern wählen zu müssen, und schon wäre ich mit der Rivington Street in Manhattan verbunden, war absurd. Als wäre meine Welt von dieser nur ein paar Tastendrücke entfernt.
    Wenn es so einfach wäre.
    U Ba röchelte und hustete ein wenig, ich hockte mich zu ihm und legte meine Hand auf seinen Arm. Irgendwann stand ich auf, ging zurück in mein Zimmer, holte die Bettdecke und legte mich auf sein Bett. Ich war mir nicht sicher, was überwog: mein Gefühl, ihn so krank nicht allein lassen zu können, oder meine Sehnsucht nach seiner Nähe.

3
    D as Frühstücksbuffet war opulent. Wir waren zu dieser frühen Stunde fast die einzigen Gäste im Speiseraum, und mehr als ein Dutzend Kellner und Köche verfolgten jede unserer Bewegungen. U Ba musterte ausgiebig die verschiedenen Käse- und Wurstsorten, beugte sich über die diversen Marmeladen und Brötchen, wollte wissen, wonach Croissants, Müsli und Cornflakes schmecken, und bestellte am Ende eine burmesische Nudelsuppe.
    Mein Käseomelett schmeckte nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich keinen Appetit hatte. Mir war übel, ich spürte einen unangenehmen Druck im Magen, hatte schlecht geschlafen, meine Schultern waren verspannt. Die Szenen aus dem Krankenhaus gingen mir nicht aus dem Kopf. Das Gesicht des Arztes, als ich die zweihundert Dollar auf den Tisch legte.
    »Stimmt es, dass du noch nie jemanden bestochen hast?«, wollte ich von meinem Bruder wissen.
    Er nippte an seinem Tee und nickte.
    »Ich dachte, die Behörden hier seien so korrupt.«
    »Sind sie auch. Aber ich hatte keine Kinder, für die ich bessere Zensuren in der Schule kaufen musste. Ich besitze keinen Laden, für den ich Genehmigungen benötige. Ich war nie ernsthaft krank. Mit der Polizei hatte ich in meinem Leben noch nichts zu tun. Ich brauche nichts von den Behörden, wofür ich bezahlen müsste.«
    »Außer einen Reisepass«, sagte ich.
    »Außer einen Reisepass«, bestätigte U Ba mit einer Miene, die ich nicht zu deuten wusste.
    Der Kellner brachte eine dampfende Nudelsuppe, mein Bruder begann sie genüsslich zu schlürfen, und ich hatte den Eindruck, dass es ihm ein wenig besser ging.
    »Schmeckt es?«
    Er nickte. »Dir nicht?«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Warum nicht?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Du machst dir zu viele Sorgen.«
    »Ich wüsste nicht, worüber«, entgegnete ich mit einem gequälten Lächeln.
    »Ich bin nicht sterbenskrank, glaube mir.«
    »Warum bist du dir da so sicher?«
    »Das spüre ich.«
    »Intuition?«
    »Intuition!«
    Er sah mein Lachen. »Was für eine schöne Frau du bist.«
    »Ach U Ba, hör auf damit«, erwiderte ich müde. »Du nimmst mich nicht ernst. Ich habe Angst um dich.«
    »Warum?«
    Mir war nicht klar, ob er die Frage ernst meinte oder ob er seine Unbefangenheit nur spielte. »Weil es sein kann, dass du sehr krank bist.«
    Mein Bruder löffelte den letzten Rest seiner Suppe, bevor er antwortete. »Ja, die Möglichkeit besteht. Bei dir aber auch.«
    »Ich habe keinen Rundherd auf der Lunge.«
    »Du

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