Herzenstimmen
an einem üppigen Blumengesteck vorbei zur Rezeption. Eine junge Frau reichte mir ein feuchtes Tuch und einen rötlich-gelben Willkommensdrink. Ich bat um zwei ruhige, nebeneinanderliegende Einzelzimmer, Nicht raucher, möglichst weit weg vom Fahrstuhl, bestellte einen Weckruf für sechs Uhr am nächsten Morgen und legte meine Kreditkarte auf den Tresen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass mir U Ba nicht gefolgt war. Er stand wie verloren neben dem Weihnachtsbaum, fingerte am Knoten seines Longy herum, den Blick zur Tür gerichtet, als wäre er bereits wieder auf dem Weg nach draußen. Ich winkte ihn heran, doch er rührte sich nicht.
Ich nahm dem verdutzten Pagen das Gepäck wieder ab und ging zu U Ba.
»Was ist los?«
»Ich kann auch woanders schlafen, es gibt in der Nähe noch ein …«
»Das kommt gar nicht infrage«, unterbrach ich ihn sofort. »Wir haben zwei Einzelzimmer. Sie wecken uns morgen früh um sechs, dann frühstücken wir und nehmen den nächsten Zug nach Hsipaw.«
Er nickte und folgte mir zum Fahrstuhl, den ein Hotelangestellter bereits gerufen hatte. Wir fuhren schweigend in den fünften Stock, liefen einen langen Korridor entlang und verabschiedeten uns vor den Zimmern.
»Brauchst du noch etwas?«
Er schüttelte müde den Kopf.
»Kann ich noch irgendetwas für dich tun?«
»Nein, danke.«
»Dann schlaf gut.«
»Du auch.«
Mein Zimmer war viel zu kalt. Mich fröstelte, ich stellte die Klimaanlage ab und schaute mich um. Ein breites Bett mit frischer Wäsche. Minibar. Ein Schreibtisch, Briefpapier, zwei Telefone, LAN-Anschlüsse, Farbfernseher, Blumengesteck. Eine Schale mit frischem Obst. Alles wirkte furchterregend vertraut. Wie oft hatte ich auf Geschäftsreisen in ähnlichen Zimmern übernachtet? Dallas. Miami. Chicago. Houston. San Diego. Die Hotelzimmer, Büros und Konferenzräume, in denen ich arbeitete, sahen überall gleich aus. Es war eine anonyme, austauschbare Welt. Wohltemperiert, steril, geruchlos, unsinnlich. Eine Welt, in der ich mich problemlos zu bewegen wusste. In der ich mich bisher weder wohl noch unwohl gefühlt hatte. In der ich, wenn ich ehrlich war, gar nichts fühlte. In der ich funktionierte. Verhandlungen führte. Aufgaben erledigte. Dieser Raum war eine Erinnerung an sie, und ich fühlte mich mit einem Mal auf eine unheimliche Weise fremd darin. Fehl am Platz. Als wäre ich nach langer Zeit einmal wieder zu Besuch bei ehemals guten Freunden, um festzustellen, dass mich mit ihnen nichts mehr verband.
Ich fiel kraftlos in einen Sessel, legte die Füße hoch und wartete, ohne zu wissen, worauf. Eigentlich hatte ich mich auf eine warme Dusche und ein weiches Bett gefreut, nun war ich zu erschöpft, um mich auszuziehen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Irgendwann hörte ich U Ba husten. Als der Anfall kein Ende nahm, wollte ich nach ihm sehen. Seine Tür war angelehnt. Im Flur standen seine ausgetretenen Gummisandalen. Er hatte die Decke vom Bett genommen, zusammengefaltet und auf den Fußboden gelegt; die Tasche mit dem zweiten Hemd und Longy diente als Kopfkissen. Dort schlief er in Seitenlage, die Beine fast bis zur Brust angewinkelt, der Husten hatte ihn nicht geweckt, oder aber er war sofort wieder eingeschlafen. Ich schloss leise die Tür, setzte mich aufs Bett und betrachtete meinen Bruder. Die dünnen Beine, die vernarbten Füße. Sein Brustkorb hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus des Schlafenden. Auf dem Boden liegend, ruhend, sah er älter und noch hagerer aus. Bedürftig, schutzbedürftig.
Ich dachte an die zehn Jahre, die zwischen meinen beiden Reisen lagen und in denen wir uns nicht gesehen hatten. Wie hatte ich nicht merken können, wie sehr ich ihn vermisste? Plötzlich verstand ich, warum er mich nie in New York besucht hatte. Mit seinem Longy und seinen Sandalen passte er dort so wenig hin, wie ich ihn mir in Jeans und Schuhen durch die Straßen Manhattans laufend vorstellen konnte.
Warum hatte ich ihn gegen seinen Willen ins Krankenhaus gebracht? Weshalb den Arzt bestochen, ohne ihn zu fragen? Ich wollte helfen. Ich hatte Angst um ihn. Wie konnte ich mir einbilden, besser zu wissen, was gut für ihn ist?
Mir fiel ein Satz unseres Vaters ein, den ich als Kind nie verstanden hatte: »In der Hölle des Gutgemeinten.« So nannte er die Wohltätigkeitsbälle, die meine Mutter organisieren half. »Hölle« und »gut gemeint« waren für mich zwei Begriffe gewesen, die zusammen nicht in einen Satz passten. Sie standen in einem
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