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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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sich beruhigt, wir hörten nichts als das helle Spiel der Glöckchen an den Dächern.
    Auf dem oberen Treppenabsatz erschienen ein Junge und ein Mädchen. Sie trugen die roten Kutten der Novizen und musterten uns neugierig. Hinter ihnen tauchte kurz darauf ein Mönch auf. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, flüsterte etwas, sie lachten. Er stieg langsam die Stufen hinunter und kam mit festen und zugleich ein wenig federnden Schritten auf uns zu. Ich fühlte mein Herz heftig pochen. Sollte das Thar Thar sein? Von dem ich so viel und doch wieder fast nichts wusste. Er war noch größer und kräftiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Seine Haare waren kurz geschoren, die Zähne so weiß wie die Jasminblüten gestern, sein Kopf wohlgeformt, die Lippen voll, aus seiner Mönchskutte ragten zwei muskulöse Arme heraus. Ich erkannte das Muttermal unter dem Kinn sofort. Die Narbe am Oberarm. Den fehlenden Finger an der rechten Hand. Er begrüßte U Ba mit einem freundlichen »Nay Kaung Gya Tha Lah«, dann wandte er sich mir zu. Streckte mir die Hand entgegen, blickte mir direkt in die Augen und sagte auf Englisch mit einem Akzent, den ich von einer italienischen Freundin kannte: »Welcome to my monastery, Signora. How are you?«

4
    T har Thar lachte. Ich war vermutlich nicht der erste Besucher, der auf seine Begrüßung verblüfft reagierte. Er hatte ein wunderschönes Lachen. Eines, das jemand mit seiner Vergangenheit gar nicht haben dürfte.
    Als Nächstes fielen mir seine Augen auf. Ich hatte noch nie einen Menschen mit solchen Augen gesehen. Ungewöhnlich groß, tiefbraun, mich auf eine ruhige Art fixierend, die mir angenehm war. Mehr als angenehm. In ihnen ruhte eine solche Kraft und Intensität, dass ich eine Gänsehaut bekam. Er war ein Mensch, in dessen Gegenwart ich mich wohlfühlen würde, ohne dass ich hätte erklären können, warum.
    Mein Bruder hätte es wohl Intuition genannt.
    Unsere Hände berührten sich. Einen Augenblick lang standen wir uns stumm gegenüber, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Sprichst du kein Englisch?«, fragte er verwundert.
    »Doch … natürlich.«
    »Was führt euch zu uns?« Thar Thar schaute zunächst U Ba an, dann mich.
    Mein Bruder warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zögerte.
    »Wir sind gekommen …«, hob U Ba an.
    »Aus Neugierde«, unterbrach ich ihn.
    Die Verwunderung in den Augen meines Bruders.
    Ich wollte Thar Thar nicht die Wahrheit sagen, nicht jetzt. Vielleicht, weil ich fürchtete, dass damit unsere Reise zu Ende wäre. Oder weil ich unsicher war, wie er darauf reagieren würde: uns für verrückt erklären? Mich als eine Art Medium sehen, um mit seiner Mutter zu hadern? Sich abwenden und uns wieder wegschicken, weil er nicht an seine Vergangenheit erinnert werden wollte? Mir war nicht wirklich klar, was mich abhielt.
    »Haben sie euch in der Stadt von uns erzählt?«, fragte Thar Thar, der die Verwirrung zwischen meinem Bruder und mir offenbar nicht bemerkt hatte.
    »Ja, genau«, bestätigte ich schnell. »Deshalb sind wir hier.«
    »Das habe ich mir gedacht. Bei uns …«
    Er wurde von einem Hustenanfall meines Bruders unterbrochen. U Ba wandte sich ab, Thar Thar beobachtete ihn besorgt und wartete, bis sich mein Bruder beruhigt hatte, dann fuhr er fort: »… bei uns tauchen hin und wieder neugierige Touristen auf, die in Hsipaw von uns hören. Aber aus Italien kommst du nicht, oder?«
    Ich schüttelte überrascht den Kopf. »Nein. Ich bin Amerikanerin.«
    »Che peccato.«
    Verblüffte Blicke. »Und das heißt?«
    »Wie schade.«
    Für einen Moment zweifelte ich, ob wirklich Thar Thar vor uns stand. Wie sollte er, der, soweit ich wusste, nicht einmal eine Schule besucht hatte, zwei Fremdsprachen beherrschen? »Sprichst du Italienisch?«
    »Un poco. Ein bisschen.«
    »Wo … wo hast du das gelernt?«
    Er amüsierte sich über meine zunehmende Verwirrung. »Von einem italienischen Priester. Er hat mir Englisch, ein wenig Italienisch und noch viel, viel mehr beigebracht.«
    »Wo? Hier in Burma?«
    »Ja. Aber das ist eine sehr lange und bedauerlicherweise auch sehr uninteressante Geschichte, mit der ich euch nicht langweilen möchte. Ihr seid bestimmt nicht gekommen, um meine Lebensgeschichte zu hören, sondern um das Kloster zu sehen und ein paar der Kinder kennenzulernen, richtig?«
    U Ba und ich nickten verlegen.
    »Dann kommt mit.«
    Thar Thar lief voran, wir folgten ihm, und mein Bruder wirkte genauso irritiert wie ich.
    Ich erwartete jeden

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