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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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macht«, sagte U Ba leise.
    Thar Thar stand sofort wieder auf, holte eine Matte und breitete eine Decke über meinem Bruder aus.
    »Habt ihr schon ein Hotel in Hsipaw?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ihr könnt gern bei uns übernachten.«
    Ich schaute mich skeptisch nach Betten oder Schlafplätzen um. »Wo habt ihr Platz für uns?«
    Er lachte wieder. »Überall. Wir rollen abends Matten aus. Wenn ihr eure Ruhe haben wollt, bau ich euch in der Ecke einen Schlafplatz, da hängt sogar ein Vorhang. Manchmal bleiben Touristen über Nacht, die schlafen dort. Wir haben sogar noch zwei Schlafsäcke, die uns jemand hiergelassen hat. Ich glaube, deinem Begleiter würde es guttun.«
    »Er ist mein Bruder.«
    Er stutzte kurz. »Ihr seht euch nicht sehr ähnlich.«
    »Mein Halbbruder. Ich lebe in New York und besuche ihn.«
    Thar Thar nickte und nahm meine Erklärung ohne weitere Fragen zur Kenntnis.
    Draußen brach die Abenddämmerung an, ich hörte Stimmen unter dem Haus. Geraschel. Geklapper. Heiteres, ausgelassenes Lachen, so wie nur Jugendliche es können, dachte ich.
    Kurz darauf kamen sie die Treppe hoch. Ko Aung und Ko Lwin kannte ich schon. Ihnen folgten zwei junge Männer, die humpelten. Ein Mädchen mit einem Stock, der ihr als Krücke diente. Ihr fehlte ein Bein. Ein Mädchen mit nur einer Hand. Ein weiteres, begleitet von einem Jungen, die beide, soweit ich es auf den ersten Blick erkennen konnte, körperlich unversehrt waren. Sie alle grüßten mich ernst, aber freundlich und verschwanden in der Küche. Schon bald vernahm ich das Knistern eines lodernden Feuers, das Klappern von Geschirr.
    »Wie viele seid ihr alle zusammen?«, fragte ich.
    »Dreizehn.«
    »Und du bist der Abt des Klosters?«
    »Nein. Streng genommen sind wir gar kein buddhistisches Kloster.«
    »Was dann?«
    Er überlegte. »Eine Familie. Wir leben zusammen. Meine zwölf Kinder und ich. Alle haben, wie soll ich mich ausdrücken … alle sind anders als andere Kinder. Ko Aung ist blind, Ko Maung taub. Ko Lwin hat die Hasenscharte und einen Buckel. Ko Htoo humpelt, Soe Soe hat einen Fuß verloren, Moe Moe fehlt ein Arm, Toe Toe hat Anfälle, Ei Ei ein steifes Bein, Was immer es ist, ihre Familien konnten nicht mehr für sie sorgen, die anderen Klöster in der Umgebung wollten sie nicht.«
    »Warum nicht?«, wunderte ich mich.
    »Viele buddhistische Klöster nehmen nicht gern behinderte Novizen. Die Mönche glauben, sie besäßen ein schlechtes Karma. Nur Menschen, die körperlich und geistig unversehrt sind, können Mönche werden. Deshalb kamen sie zu mir.«
    »Und was machst du mit ihnen?«
    Er schenkte mir Tee nach und musterte mich verwundert. Meine Fragen schienen ihm nicht sinnvoll zu sein. »Was man als Familie so macht: Man sorgt füreinander, oder nicht? Ich unterrichte sie, so gut ich kann, wir bauen Gemüse an, flechten Körbe, Dächer und Hauswände, die wir verkaufen. Wir beten und meditieren gemeinsam. Wir kochen und essen zusammen. Hast du keine Familie?«
    Ich schluckte kurz und deutete auf den schlafenden U Ba. »Doch, meinen Bruder.«
    »Und in Amerika?«
    »Niemand, mit dem ich zusammenlebe.«
    »Keinen Mann?«
    »Nein.«
    »Keine Kinder?«
    Ich holte tief Luft.
    Ein Versprechen, streichholzgroß. Nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
    »Nein.«
    »Du lebst ganz allein?«
    Seit meiner Kindheit hatte mich niemand mehr so mitleidsvoll angeschaut.
    Ich räusperte mich. »Ja, und das ist auch gut so.«
    Er neigte den Kopf zur Seite und wippte ein wenig mit dem Oberkörper, ohne etwas zu erwidern.
    Eine Mädchenstimme rief uns zum Essen.
    Wir hockten uns auf drei Balken um das Feuer, die zwölf Jugendlichen, Thar Thar und ich. Jeder von uns bekam eine Schüssel Reis mit etwas Gemüsecurry und einem Spiegelei obendrauf.
    Manche warfen mir über ihre Schale hinweg verstohlene Blicke zu, andere waren zu hungrig, um mich lange zu beachten. Das Curry schmeckte etwas säuerlich, aber gut, der Reis war nicht gründlich gewaschen, hin und wieder spürte ich etwas Sand oder einen kleinen Stein zwischen den Zähnen.
    Ein wohltuendes Schweigen breitete sich aus. Das Knacken des Feuers. Das Rascheln des Bambus im Hof.
    Erst jetzt bemerkte ich, dass eines der jungen Mädchen zitterte, als leide sie an Parkinson. Sie führte ihren Löffel zum Mund, doch schon auf halbem Weg war nicht ein Reiskorn mehr drauf. Sie versuchte es erneut, wieder fiel ihr ein Teil des Essens runter. Sie nahm ihre Hände, auch das misslang, was das Zittern nur

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