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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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noch verstärkte.
    Neben ihr saß die einarmige Moe Moe. Sie hatte ihre Schale zum Essen zwischen die Beine geklemmt, stellte sie zur Seite, griff nach einem Löffel und begann ihre Nachbarin zu füttern. Sofort wurde sie ruhiger. Moe Moe und ich schauten uns an, sie war die Einzige, die meinem Blick nicht auswich. Mit einer Geste deutete ich an, dass ich ihr helfen würde, sie schüttelte kaum merklich den Kopf, ein Lächeln flog über ihre Lippen, und sie dankte mir mit den Augen. Sie besaß das schönste, traurigste Lächeln, das ich je gesehen hatte.
    Ich brachte meinem Bruder eine Schüssel Reis, aber er hatte keinen Appetit und wollte sich weiter ausruhen.
    Wir beschlossen, über Nacht zu bleiben.
    Thar Thar bereitete unsere Schlafstätten vor. Er fegte den Boden, kramte aus einer Truhe mehrere Matten, Decken und die beiden Schlafsäcke hervor und breitete sie in der Ecke hinter dem Vorhang aus; für mich legte er eine doppelte Unterlage zusammen, weil ich es, so vermutete er, bestimmt nicht gewohnt sei, auf hartem Grund zu schlafen. Vom Altar holte er die Schüssel mit den Rosenblüten und stellte sie zwischen unsere Matten. Sie würden schlechte Träume verscheuchen und für einen guten Schlaf sorgen, behauptete er.
    Die Zärtlichkeit dieser Geste berührte mich.
    Ich holte meinen Bruder und setzte mich zu ihm. Er lächelte erschöpft, nahm meine Hand und war nach wenigen Minuten eingeschlafen.
    Ich ging hinaus und hockte mich auf die Treppe. Die Düsternis verschlang den Hof. Über mir leuchteten Sterne. Es waren so viele, dass ich erschrak. Von drinnen hörte ich U Ba im Schlaf husten.
    Kurz darauf setzte sich Thar Thar zu mir. Mir fielen seine breiten, kräftigen Füße auf, die nicht zu seinen langen, schlanken Fingern passten. Er hatte eine Kerze, Tee und zwei Tassen mitgebracht.
    »Möchtest du?«
    »Gern.«
    »Dein Bruder ist ziemlich erkältet«, sagte er und goss uns ein.
    »Hoffentlich ist es nur eine Erkältung.«
    »Was sonst?«
    Ich erzählte ihm von einem Arzt mit traurigen Augen. Von einem dunklen Fleck auf einer alten Lunge. Von Medikamenten, die nicht heilen.
    »Machst du dir Vorwürfe?«
    »Vor allem mache ich mir Sorgen.«
    »Das verstehe ich, ist aber nicht nötig. Dein Bruder stirbt noch nicht.«
    »Das behauptet er auch. Woher wollt ihr das wissen?«, entgegnete ich zweifelnd. »Bist du Wahrsager? Astrologe?«
    »Nein. Aber ich erkenne seinen Husten. Er klingt vertraut. So husten hier viele Menschen, wenn die kalte Jahreszeit anbricht. Und in seinen Augen, in seinem Gesicht, kündigt sich der Tod noch nicht an.«
    »Du glaubst, du erkennst einen bevorstehenden Tod in den Augen?«
    »Ja«, sagte er ruhig.
    »Woran?«, fragte ich ungläubig.
    Thar Thar dachte lange nach. Dabei fuhr er mit beiden Händen immer wieder langsam über seinen kahl geschorenen Kopf, als streichle er sich selbst. »Das ist ganz verschieden. In manchen Augen siehst du die Angst vor dem Tod. Ein letztes Flackern, sehr verzweifelt und sehr einsam. Aus anderen ist das Leben schon ein wenig entwichen. In ihnen siehst du eine erste Andeutung von der Leere, die folgt. In den Augen deines Bruders deutet nichts auf einen baldigen Tod hin.«
    »Der Arzt war sich da nicht so sicher.«
    »Ärzte schauen nicht in die Augen.«
    Ich wollte nicht weiter darüber sprechen und fragte noch einmal nach dem italienischen Priester.
    »Das ist wirklich eine lange Geschichte«, entgegnete er.
    »Das macht nichts. Ich habe Zeit.«
    »Dann wärst du der erste Mensch aus dem Westen, den ich kenne«, sagte er lachend.
    »Kennst du so viele?«
    »Was heißt viele? Wir bekommen hin und wieder Besuch, und auch bei Pater Angelo waren häufiger Touristen zu Gast. Sie waren immer in Eile. Selbst in den Ferien.«
    »Ich bin es nicht«, behauptete ich.
    Er schaute mich mit einem prüfenden Blick an. »Wie lange bleibt ihr?«
    »Mal sehen. Wir haben keine Pläne.«
    »Keine Pläne? Das wird ja immer ungewöhnlicher«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Ein paar Tage?«
    »Warum nicht?«
    »Aber wer bei uns wohnt, muss auch bei der täglichen Arbeit helfen.«
    »Das heißt?«
    »Kochen. Putzen. Waschen. Eier sammeln. Hühner füttern.«
    »Selbstverständlich – wenn du mir erzählst, wie du zu dem Priester gekommen bist.«
    »Warum interessiert dich das so?«
    Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm jetzt die Wahrheit sagen sollte. Aber ich fürchtete, wenn ich sie ihm erzählte, würden wir über nichts anderes mehr reden, und ich wollte

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