Herzenstimmen
Augenblick ein Zeichen der Stimme. Wir standen ihrem Sohn gegenüber. Warum schwieg sie jetzt? Aus Scham? Schlechtem Gewissen? Was sagt eine Mutter zu ihrem ungeliebten Kind, das sie in den Tod geschickt und das überlebt hat? Vielleicht genügte es ihr, Thar Thar lebend zu be gegnen. Zu sehen, dass es ihm gut ging. Würde sie hier zu Ruhe kommen? Ohne weitere Worte? Ohne ihn um Vergebung zu bitten?
Das Gelände war weitläufiger, als es zunächst den Anschein hat te. Hinter dem Klostergebäude lagen ein Brunnen mit einem gemauerten Becken, ein Schuppen mit einem Haufen gehacktem Holz davor und ein Bolzplatz mit zwei schiefen, selbst gezimmerten Toren. Neben dem Feld begann der Bambushain, in einiger Entfernung sah ich ein paar Leute auf einem Acker arbeiten. Ein leichter Wind rieb die Bambusrohre aneinander, ihr kratzendes Knarzgeräusch mischte sich mit dem hellen Bimmeln der Glöckchen zu einem ganz eigenen Gesang.
Auf der anderen Ecke des Klosters stand eine grauweiße Stupa mit vergoldeter Spitze, von der Putz in großen Fladen abgebröckelt war. Davor hockten zwei Novizen zwischen Haufen von getrockneten Blättern und Zweigen und flochten Körbe. Thar Thar rief etwas, sie unterbrachen ihre Arbeit, erhoben sich etwas umständlich und kamen uns entgegen. Der eine ging langsam, mit tastenden Schritten, den Kopf gesenkt, als suche er etwas. Der andere lief tief gebeugt neben ihm her, er hatte einen großen Buckel. Beide waren barfuß, ihre Füße und Beine mit Narben und Kratzern übersät. Als sie vor uns standen, legten sie die Hände aneinander und verneigten sich höflich. Der jüngere hatte dazu auch noch eine tiefe Hasenscharte, und als der ältere den Kopf hob, lief mir ein Schauder über den Rücken. Seine Augen waren milchig weiß, er war blind.
U Ba nahm kurz meine Hand.
»Das sind Ko Aung und Ko Lwin«, sagte Thar Thar. »Keiner kann Körbe flechten wie sie. Früher besaß ich auch recht flinke Finger, aber im Vergleich zu ihnen war ich ein Trödler.«
Sie flüsterten etwas im Chor, was entfernt nach »How are you« klang.
»Ich gebe ihnen jeden zweiten Tag Schulunterricht«, erklärte Thar Thar mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Dazu gehört auch ein wenig Englisch.«
Ich antwortete, dass es mir gut gehe und dass ich mich freute, hier zu sein. Ein schwer zu deutendes Lächeln zog über ihre Gesichter, sie verneigten sich noch einmal und gingen wieder an die Arbeit.
Thar Thar erzählte, dass die anderen Novizen auf dem Feld seien, und lud uns ein, im Kloster einen Tee mit ihm zu trinken.
Wir stiegen eine wackelige Treppe hinauf und betraten das Hauptgebäude. Staunend blieb ich stehen. Es war ein großer Saal, dem Eingang gegenüber standen auf einem Podium ein Dutzend verschiedener Buddhastatuen. Manche glänzten golden im Licht der Glühbirnen, andere waren aus dunklem, fast schwarzen Holz oder hellem Stein. Es gab den Liegenden Buddha, den Kopf auf einen Arm gestützt, den aufrecht Stehenden und auch den Sitzenden Buddha, der eine Hand mahnend erhoben hielt. Eine andere Statue zeigte ihn dick und plump wie einen Sumoringer, dabei nach Kräften lachend. In Vasen steckten rote Gladiolen, Jasmin, Hibiskuszweige, in einer Schalen schwammen Rosenblüten. Über dem Altar hingen Lampions und ein ausladender, gelber Schirm mit aufgenähten bunten Steinen. Auf Tellern lagen Opfergaben – Reis, winzige Plastiktütchen, Bonbons, Batterien, Kekse. Der Qualm von Räucherstäbchen zog darüber hinweg, es roch nach frischen Blumen und Weihrauch. An der Wand dahinter entdeckte ich zwei Kruzifixe, an einer Säule klebte ein vergilbtes Poster der Jungfrau Maria, an einer anderen eines der Heiligen Drei Könige. Ich wollte meinen Bruder etwas fragen, doch der hockte hustend und erschöpft auf dem Holzboden.
»Ich glaube, dein Begleiter ist erschöpft. Ich mache uns frischen Tee«, sagte Thar Thar und verschwand in einem Raum am Ende der Halle.
Ich setzte mich zu U Ba.
»Ich brauche eine kleine Pause, entschuldige bitte«, sagte er.
»Hast du die Jesuskreuze gesehen?«, flüsterte ich.
Er nickte. »Bestimmt Geschenke des italienischen Priesters.«
»Wieso hängen sie in einem buddhistischen Kloster?«
U Ba zuckte mit den Schultern und lächelte müde.
Thar Thar kehrte mit einem Tablett, einer Thermoskanne und drei kleinen Bechern zurück. Er holte einen flachen Tisch und ein Sitzkissen für mich.
Der Tee war heiß und bitter.
»Ich würde mich gern etwas ausruhen, wenn es keine Umstände
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