Herzenstimmen
unbedingt wissen, was geschehen war, seit der Zeit, als er mit Ko Bo Bo im Arm das Flussufer hinuntergegangen war.
Thar Thar war mir ein Rätsel. Er entsprach in nichts dem Mann, den ich erwartet hatte, auch wenn es mir schwergefallen wäre zu beschreiben, welches Bild ich mir nach den Erzählungen Khin Khins und Maung Tuns von ihm gemacht hatte. Einen verbitterten Menschen hatte ich mir vorgestellt. Einen gequälten Geist. Einen wütenden. Verhärmten. Misstrauischen. Einen Melancholiker vielleicht oder einen schwer depressiven, der die Welt hasst. Oder sich. Oder beide.
»Es muss eine ungewöhnliche Geschichte sein. Auf sie bin ich neugierig.« Das war nicht gelogen.
Die Antwort genügte ihm. Er schenkte uns Tee nach und schwieg.
In die Stille krähte ein Hahn. Ein anderer antwortete.
Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln im Schein der flackernden Kerze. Er strahlte eine große, wohltuende Ruhe aus, seine Züge waren entspannt, er saß so aufrecht, als meditiere er.
»Ich war«, hob Thar Thar nach einer langen Pause an, »wie soll ich sagen, ich war in Not. Ich hatte meine Familie verloren und war auf der Suche.«
»Wonach?«
Er grinste. »Siehst du, wie eilig du es hast.«
Ich musste über mich selber lachen und nickte als Zeichen, dass ich ihn verstanden hatte.
»In einem Teehaus«, fuhr Thar Thar fort, »hörte ich von Pater Angelo und dass er Menschen wie mir hilft. Der Pater lebte schon sehr lange hier. Er war als Missionar ins Land gekommen, als es offiziell noch Burma hieß und die Engländer herrschten. Während der Kolonialzeit kamen viele Geistliche aus Amerika, England, Spanien und Italien, die uns bekehren wollten. Manche blieben ihr Leben lang. Zu ihnen gehörte Pater Angelo. Er hat mich aufgenommen, ohne dass ich lange bitten musste. Ich habe ihm den Haushalt geführt, geputzt, eingekauft, gekocht, die Wäsche gemacht, er hat mir dafür Unterkunft gegeben und mich unterrichtet. Der Pater brachte mir Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen bei. Mathematik war nicht seine Stärke. Er gab mir lieber Englisch- und eben ein wenig Italienischunterricht. Bei ihm habe ich zum ersten Mal ein richtiges Buch in den Händen gehalten. Bei ihm habe ich gelernt, welche Macht die Wörter besitzen. Im Haus war eine kleine Bibliothek, ich hatte viel Zeit und habe fast jedes Buch, das ich in die Hände bekam, verschlungen. Ich weiß, wer Robinson Crusoe ist.«
Er genoss das Staunen in meinem Gesicht.
»Moby Dick. Oliver Twist. Sogar Kain und Abel. Der Pater und ich haben zusammen das Alte und das Neue Testament studiert. Ich habe ihm bei Beerdigungen geholfen, bei Taufen und Trauungen. Wir haben Weihnachten zusammen gefeiert und Ostern. Seine Gottesdienste fanden in einer alten Kirche statt, im Ort gab es eine kleine, aber wieder wachsende christliche Gemeinde. Ich habe in acht Jahren keine Predigt von ihm versäumt.«
»Wie ich sehe, hat er dich trotzdem nicht bekehren können.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das Kloster. Die Buddhas, deine Robe …«
»Das sind nur Äußerlichkeiten, lass dich von ihnen nicht täuschen. Die Kinder, die zu mir kommen, wachsen in bud dhistischen Familien auf, sie fühlen sich wohler, wenn der Budd ha ein Auge auf sie hat. Du hast recht und auch wieder nicht. Pater Angelo hat mich sehr wohl bekehrt. Aber nicht zum Christentum.«
»Warum nicht?«
»Weil ich kein Sünder bin.« Sein Lächeln bei diesem Satz.
»Wozu hat er dich dann bekehrt?«
Thar Thar zögerte. »Das ist eine andere Geschichte.«
»Ich habe Zeit …«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts für heute Abend. Ich weiß gar nicht, ob ich sie erzählen könnte. Ich habe diese Geschichte noch nie in Worte gefasst.«
Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. War er voller Zärtlichkeit, oder bildete ich es mir ein?
»Warum bist du von Pater Angelo weggegangen?«
»Er war alt und wurde krank. Nach einem Schlaganfall habe ich ihn fast ein Jahr lang gepflegt. Einen Tag nach seinem neunzigsten Geburtstag hörte sein Herz auf zu schlagen. Ich saß an seinem Bett. Er nahm meine Hand und legte sie auf seine Brust. Ich konnte fühlen, wie es immer langsamer pochte. Irgendwann hörte es einfach auf.«
Wir schauten schweigend in die abnehmende Dunkelheit, die den Hof und die Bäume und die Büsche allmählich wieder preisgab: Über dem Bambus ging der Mond auf und schüttete sein fahles Licht aus.
Ich musste an ein Dorf denken, in dem die Angst auf den Bäumen saß, Grimassen schnitt und ihren
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