Herzenstimmen
schnell …«
»Ich verstehe. Später?«
»Später!«
»Dann möchte ich jetzt einfach wissen …«, er dachte sehr angestrengt nach, »wie viele Zimmer dein Haus hat.«
Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen.
»Zwei. Ich lebe in New York City, in Manhattan, um genau zu sein.« Ich schaute ihn fragend an.
»Ich weiß, wo Manhattan ist«, sagte er. »Ich habe es in einem Buch gelesen.«
»Meine Wohnung liegt im vierunddreißigsten Stock«, fuhr ich fort, »und hat zwei Zimmer, ein Bad und eine offene Küche, in der ich auch esse.«
»Wie hier«, bemerkte er.
Ich versuchte, in seinen Gesichtszügen zu lesen, ob er den Vergleich ernst meinte. Thar Thar schaute mir direkt in die Augen, ich erschrak, wie intensiv sich unsere Blicke begegneten.
Ein leichtes Zucken um die Lippen deutete darauf hin, dass er wohl Spaß machte.
»Wie hier«, bestätigte ich. »Genau wie hier.«
Er lächelte. »Dachte ich es mir. Und was arbeitest du?«
»Ich bin Rechtsanwältin in einer sehr guten Kanzlei.«
»Rechtsanwältin? Wirklich? Sie haben bei uns im Land keinen guten Ruf«, sagte Thar Thar.
»Bei uns auch nicht«, sagte ich. Meine Anspielung verstand er nicht.
»Wen verteidigst du? Räuber? Einbrecher?«
»Nein, ich bin keine Strafverteidigerin. Ich bin Wirtschaftsanwältin, spezialisiert auf Urheberrecht. Patentschutz. Produktpiraterie. Copyrightverletzungen. Solche Sachen. Du verstehst, was ich meine?«, vergewisserte ich mich.
Er schüttelte den Kopf.
»Produktpiraterie«, sagte ich ein zweites Mal und sprach das Wort langsam und sehr betont aus in der Hoffnung, eine schlichte Wiederholung würde genügen. Ich wollte gern, dass er verstand, was ich machte.
Kopfschütteln. Das Bedauern in seinem Gesicht, dass er mir nicht folgen konnte und mich enttäuschte.
»Wie kann ich dir das erklären? Produktpiraterie ist zum Beispiel, wenn du eine ganz teure Handtasche herstellst und …«
»Wie teuer?«
»Sagen wir tausend Dollar …«
»So teure Handtaschen gibt es?«
»Sicher, noch viel teurere, aber das ist jetzt nicht so wichtig«, sagte ich etwas ungeduldig, »es ist ja nur ein Beispiel. Also du produzierst diese Handtaschen, und dann kommt jemand, macht sie einfach nach und verkauft sie für ein Zehntel des Preises.«
»Aber das ist doch gut.«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Wo kämen wir da hin? Das ist Diebstahl!«
»Ach so. Sie klauen die Taschen und verkaufen sie dann weiter?«
»Nein!«, seufzte ich. »Nur die Idee. Es ist Diebstahl von geistigem Eigentum. Das ist genauso schlimm. Firmen müssen sich vor so etwas schützen, dafür brauchen sie Rechtsanwälte. In China zum Beispiel wird fast alles kopiert. Da machen sie sogar ganze Läden …« Ich stockte. Sein Stirnrunzeln verriet mir, dass er noch immer nicht verstand, wovon ich sprach. Nicht im Ansatz.
»Das wäre ungefähr so, als wenn jemand von dir …« Ich suchte nach einem praktischen Beispiel, einem Vergleich aus seiner Welt, und schaute mich in der Küche um, ob ich etwas Anschauliches finden würde. Mein Blick wanderte vom offenen Feuer zu einem verrußten Kessel, zu Thar Thars ausgewaschener Kutte. Je länger ich innehielt, desto alberner kam ich mir vor. »Vergiss es«, sagte ich schließlich. »Es ist nicht so wichtig.«
»Doch«, widersprach Thar Thar. »Erzähl weiter. Wenn dir die Piraten wichtig sind, sind sie wichtig. Ganz einfach.«
»Sie sind mir nicht wichtig«, erwiderte ich fast ein wenig barsch.
»Eben waren sie dir noch wichtig.«
»Eben hatte ich gedacht, sie wären mir wichtig.«
Er schwieg und wippte sanft mit dem Oberkörper hin und her. Dabei streichelte seine linke Hand die rechte.
Was war mir wichtig?
Eine einfache Frage, Thar Thar hatte recht. Sehr allgemein, aber es sollte mir nicht schwerfallen, sie zu beantworten. In New York hätte ich es ohne zu zögern gekonnt. Warum verwirrte sie mich jetzt so?
Etwas war mit mir passiert, ohne dass ich es bemerkt hatte. Stimmt es, dass man die Minuten zählen kann, in denen in einem Leben wirklich etwas passiert? Merkt man es sofort oder erst im Rückblick?
Ein Hustenanfall meines Bruders unterbrach meine Gedanken. Ich stand auf und eilte zu ihm.
Er war gerade aufgewacht und blickte mich aus kleinen, verschlafenen Augen ein wenig verwirrt an. Als wisse er gerade nicht genau, wo er sich befand.
Ich kniete mich neben ihn und streichelte seine Hand. Sie war wohlig warm. »Wie hast du geschlafen?«
»Nicht schlecht«, antwortete er leise.
»Hast du
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