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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Hunger?«
    »Nein, nur Durst.«
    Thar Thar kam mit einem Becher Tee und einem Holztöpfchen, in dem ein Rest dunkler Creme schimmerte, die intensiv nach Eukalyptus roch. »Das ist eine Salbe unseres Medizinmannes, die ich noch gefunden habe. Du musst ihm Brust und Rücken einreiben. Sie wird ihm helfen.«
    U Ba richtete sich auf und trank schlürfend den heißen Tee.
    Ich zögerte einen kurzen Moment.
    »Soll ich es machen?«, fragte Thar Thar.
    »Nein, danke«, erwiderte ich, überrascht, dass er meine Unsicherheit sofort bemerkt hatte.
    Thar Thar entfernte sich dezent, ich hockte mich hinter U Ba, schob sein Hemd hoch, nahm zwei Fingerspitzen der Salbe und verteilte sie mit kreisenden Bewegungen zwischen seinen Schultern. Seine Haut war warm und weich, viel weicher, als ich gedacht hatte. Fast wie die eines Kindes. Sein Rücken war übersät mit kleinen Leberflecken, wie ich sie von meinem Vater erinnerte. Wie ich sie im Spiegel bei mir entdeckte.
    Als ich fertig war, legte er sich hin, und ich cremte ihm die Brust ein. Er schloss die Augen und atmete ruhig. Ich spürte sein Herz unter meiner Hand schlagen. Langsam und gleichmäßig.
    Die Zerbrechlichkeit des Glücks.
    Ich überlegte, womit mein Vater den Klang vergleichen würde. Mit dem Tröpfeln aus einem leckenden Wasserhahn? Dem Ticken einer Wanduhr? Dem Zupfen an einer Violine?
    »Soll ich dir nicht doch etwas zu essen holen?«
    »Danke. Ich möchte nur noch etwas Wasser.«
    Ich holte Wasser aus der Küche, doch als ich zu meinem Bru der zurückkam, war er schon wieder eingeschlafen.
    Thar Thar hatte alle Kartoffeln geschält, er setzte Reis auf und half mir anschließend mit den Tomaten. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so flink Gemüse schneiden konnte.
    »Erzähle mir von deinem Bruder und dir«, bat er. »Warum lebt er hier und du in New York?«
    »Das ist auch eine lange, komplizierte Geschichte.«
    »Du bist nicht in Eile, hast du behauptet.«
    »Wir haben denselben Vater. Er stammt aus Kalaw. Als junger Mann wurde er noch vor U Bas Geburt von einem reichen Verwandten nach Rangun geholt. Später schickte der ihn nach Amerika zum Studieren. Dort hat er meine Mutter kennengelernt, sie heirateten, und er wurde ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt.«
    »Lebt er noch?«
    »Nein. Er ist Jahrzehnte später nach Kalaw zurückgekehrt und dort gestorben.«
    »Um seinen Sohn noch einmal zu sehen?«
    »Nein. Er wusste nicht einmal, dass es ihn gibt.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja«, sagte ich. »Woher hätte er von seinem Sohn wissen sollen? Mein Bruder hat bei seiner Mutter gelebt, sie hatten keinen Kontakt.«
    »Lebt sie noch?«
    »Nein. Sie starben zusammen am Tag nach der Rückkehr meines Vaters. Sie hatten sich fünfzig Jahre nicht gesehen.«
    »Wie schön.«
    »Was ist daran schön?«
    »Dass sich die beiden noch gesehen haben; dass sie nicht allein gestorben sind. Ist er ihretwegen nach Kalaw zurückgekehrt?«
    »Ich glaube, sie war todkrank. Er muss es geahnt haben.«
    Wir schwiegen eine Weile.
    Ich fühlte eine zehrende Eifersucht in mir aufsteigen. Nicht auf Mi Mi, auf die Liebe zwischen meinem Vater und ihr.
    Eifersucht und Einsamkeit.
    Würde ich je so geliebt werden?
    Würde ich es ertragen?
    Würde ich diese Liebe erkennen, wenn sie mir begegnete?
    U Ba hatte mir einmal gesagt, »dass wir als Liebe nur erkennen, was unserem Bild von ihr entspricht. Wir wollen geliebt werden, so wie wir selbst lieben. Jede andere Art ist uns unheimlich.«
    Hatte er recht? Und wenn ja, was bedeutete das? Welche Art von Liebe würde ich erkennen? Wie liebte ich? War es möglich, dass ich mir diese Frage mit achtunddreißig Jahren noch nicht beantworten konnte?
    Thar Thar musste meine wachsende Traurigkeit gespürt haben. Er streckte eine Hand aus und strich mir zärtlich über die Wange. Ich griff nach ihr und hielt sie einen Moment fest, ließ meinen Kopf für ein paar kostbare Sekunden in ihr ruhen.
    Unvermittelt sagte ich: »Mein Vater konnte Herzen hören.«
    Ich sah ihm an, dass er mir jedes Wort glauben würde.
    Ich erzählte ihm von einem kleinen Jungen, dessen Vater früh verstarb den seine Mutter verließ und der sieben Tage und Nächte auf einem Baumstumpf ausharrte, nichts aß und nichts trank, um ja ihre Rückkehr nicht zu verpassen.
    Der dort fast gestorben wäre, weil die Hoffnung niemanden unbegrenzt am Leben hält.
    Ich erzählte von einer jungen Frau, die lernte, dass ein Mensch nicht mit den Augen sieht; dass man Entfernungen nicht mit Schritten

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