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Herzflattern im Duett

Herzflattern im Duett

Titel: Herzflattern im Duett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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dazu, darüber nachzudenken. Denn sie hatte eigene Sorgen. Silvania hatte nicht nur ein Problem, sondern gleich fünf. Das erste waren ihre plötzlichen Riesenkräfte. Im Kunstunterricht hatte sie einen Tisch halbiert, auf der Toilette hatte sie den Klodeckel gespalten und in der Straßenbahn hatte sie eine Halteschlaufe abgerissen. Im Sportunterricht wären die Riesenkräfte gut gewesen. Aber leider hatten sie heute keinen Sport.
    Das zweite Problem war Silvanias Haut. Sie war so blass, wie sie noch nie in ihrem Leben gewesen war. Doch sie war nicht nur blass. Sie war an manchen Stellen fast durchsichtig. Helene hatte Silvania darauf hingewiesen, dass man auf ihrer Stirn lauter Äderchen erkennen konnte. Sie meinte, es sähe total schön aus. Silvania war sich da nicht so sicher. Sie hatte nichts gegen eine vornehme Blässe. Aber durchsichtige Haut? War das nicht zu gewagt?
    Die Eckzähne waren das dritte Problem. Erst heute Morgen hatte sie Silvania schön kurz und rund gefeilt. Doch schon in der dritten Schulstunde stießen sie wieder an die Unterlippe. Silvania presste den ganzen restlichen Schultag die Lippen aufeinander. Sie lachte nur in Ausnahmefällen und hinter vorgehaltener Hand. Das war nicht einfach.
    Das vierte Problem – und das war das unheimlichste – waren die Heißhungerattacken. Sie überkamen Silvania plötzlich, unerwartet und heftig. Doch Silvania hatte keinen Heißhunger auf Schokolade, Eis oder Gummibärchen. Oder auf Hackklöpschen. Silvania hatte Heißhunger auf Blut. Als sich Ralf Siegelmann in der Mathestunde einen eitrigen Pickel ausdrückte, bis Blut herauskam, hätte sich Silvania am liebsten auf ihn gestürzt. Doch sie klemmte die Hände unter die Oberschenkel, schlang ihre Beine um die Stuhlbeine, schloss die Augen und flüsterte vor sich hin: »Nici doi viati! Nici doi vi-ati!« Es kostete sie so viel Kraft, dass sie danach beim Test an der Tafel nicht einmal mehr 15 plus 20 rechnen konnte. Erst, als sie sich 15 Eiterpickel und 20 Eiterpickel zusammen vorstellte, wusste sie, dass es insgesamt 35 waren. Bei dem Gedanken an 35 Pickel konnte sie sich jedoch nicht mehr auf die nächste Aufgabe konzentrieren.
    Auf dem Heimweg von der Schule bemerkte Silvania das fünfte Problem. Erst fing es ganz harmlos an. Sie federte bei jedem Schritt. Dann hüpfte sie bei jedem Schritt. Auf einmal schwebte sie bei jedem Schritt ein Stückchen. Hätte Daka sie nicht am Rocksaum gepackt und mit einem strengen Blick wieder auf den Erdboden gezogen, wäre Silvania vermutlich den ganzen Weg nach Hause geflogen. Bei hellstem Tageslicht! Das verstieß eindeutig gegen die erste radikale Regel! Aber vor allem war es völlig gegen Silvanias Art. Sie flog sonst nur, wenn es unbedingt sein musste. Oder um ihrem Papa die Freude zu machen. Doch auf dem Heimweg hatte sie beinahe so etwas wie einen Flugdrang verspürt. Hatte sich ihre Flugangst in einen krankhaften Flugzwang gewandelt?
    Silvania wälzte sich im Bett auf die linke Seite.
    Sie starrte an die Wand. Sie seufzte. Sie wälzte sich auf die rechte Seite. Sie starrte ins dunkle Zimmer. Sie holte tief Luft. Leise stand sie auf, holte ihr Handy aus der Tasche und flog zum Metallseil. Silvania hing sich kopfüber an das Seil und hielt sich das Handy vor die Nase. Zum 56. Mal las sich Silvania Jacobs SMS durch. Seinen Schal hatte sie seit dem Jahrmarktsbesuch nicht mehr abgenommen. Er baumelte links und rechts an ihren Ohren herunter.
    Morgen sollte Silvania wieder Nachhilfe haben. Silvania war so froh gewesen, dass Jacob sie nach dem etwas übereilten und kühlen Abschied auf dem Jahrmarkt wiedertreffen wollte. Wenn Silvania an seine winterhimmelgrauen Augen dachte, wurden ihre Knie weich wie Schneematsch. Doch wenn sie an ihre fünf Probleme dachte, wurden ihre Knie noch viel weicher. Was, wenn die Erdanziehung nicht mehr ausreichte und sie auf einmal direkt neben ihrem Nachhilfelehrer abhob? Oder was, wenn sie ihm die Hand schüttelte und ihm dabei die Finger brach? Oder wenn sie eine Heißhungerattacke überkam und Jacobs pulsierende Adern nur wenige Zentimeter von ihr entfernt waren? Vielleicht hatte er auch zufällig einen Mückenstich aufgekratzt oder Zahnfleischbluten. Was dann?
    Dann konnte Silvania für nichts mehr garantieren. Diese Nachhilfestunde könnte die letzte von Jacob Barton sein. Bei dieser Erkenntnis bekam Silvania eine Gänsehaut. Kurz entschlossen drückte sie ein paar Tasten auf dem Handy und schrieb:
    Kann morgen leider nicht. Bin

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