Herzflattern im Duett
krank. Tut mir leid, S.
Ein paar Sekunden später kam die Antwort: Gute Besserung.
Silvania las sich die SMS von Jacob viermal hintereinander durch. Er wünschte ihr gute Besserung! War das nicht nett? Das hieß, dass er sich Sorgen um sie machte. Er wünschte sich, dass sie bald wieder gesund war, damit sie sich bald wiedersehen konnten. Oder hieß es nur, dass er ihr gute Besserung wünschte? Silvania war ratlos. Sie schielte nach unten zu ihrer Schwester. Daka schlief tief und fest.
Silvania betrachtete ihre Schwester einen Augenblick. Sie sah wunderschön und friedlich aus. Am liebsten hätte sie sich an sie herangekuschelt, wie sie es früher in Bistrien im Zwillingssarg oft gemacht hatten, und sich von ihrem Schlaf anstecken lassen. Doch Silvania ahnte, dass der Schlaf sie heute nicht so einfach überkommen würde. Sie war hellwach. Etwas in ihrem Inneren drängte nach draußen, in die Nacht. Das Gefühl war unheimlich, fremd und aufregend zugleich. Silvania blickte auf den Nachthimmel und wusste, dass sie dem Drang nicht widerstehen konnte.
Jagd in
der Nacht
D er Halbmond stand über dem Wäldchen am Rand der Reihenhaussiedlung. Feine Wolken zogen langsam wie große Segelschiffe an ihm vorüber und ließen seinen Hof blauweiß aufleuchten. Die Sterne verbargen sich hinter den Wolken und funkelten nur hier und da durch das tiefdunkle Grau. Wie heimliche Beobachter, die in dieser Nacht lieber im Dunkeln bleiben wollten.
Aus dem Wäldchen kam ab und zu der Ruf einer Eule. Sonst war es still in der Reihenhaussiedlung. Alle Bewohner schienen zu schlafen. Die meisten Rollläden waren heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen, die Lichter gelöscht. Die Autos standen in den Garagen, die Hausschuhe vor den Betten und aus den gekippten Fenstern drang hier und da ein Schnarchen.
Es war eine friedliche, ruhige Nacht.
Bis kurz nach Mitternacht.
Eine getigerte Katze lief lautlos über die Terrasse von Dirk van Kombast. Sie erleichterte sich an einem Säulenwacholder. Plötzlich spitzte die Katze die Ohren und verharrte reglos. Dann sah sie, was sie zuvor nur gehört hatte: eine Maus. Sie lief so schnell sie ihre kleinen Beine tragen konnten über die Terrasse. Die Katze wollte sich auf die Maus stürzen. Doch die Maus wurde bereits verfolgt. Nicht von einer anderen Katze. Nicht von einem Vogel. Auch nicht von irgendeinem anderen Tier. Sie wurde von etwas verfolgt, das so groß war wie ein Mensch und auch so aussah wie ein Mensch.
Die Katze war intelligent und weise. Sie hatte schon viele Menschen gesehen. Sie war ihnen um die Beine gestrichen, hatte sich Milch erbettelt und ihre Hosenbeine zerkratzt. Sie wusste, wie Menschen aussahen, wie sie rochen, wie sie sich bewegten und welche Geräusche sie machten. Die Katze wusste: Das hier war kein Mensch.
Die Katze hatte zum Abendbrot von einem kleinen Jungen im Haus schräg gegenüber drei verbrannte Fischstäbchen bekommen. Sie hatte noch Appetit. Sie hatte immer Appetit. Aber sie war nicht hungrig. Ihr war nicht nach wilder Verfolgungsjagd. Ihr war nach Unterhaltung. Geschwind kletterte sie auf das Dach des Reihenhauses Nummer 21. Sie legte den Kopf auf eine Pfote und sah dem Treiben auf der Terrasse interessiert zu. Die Jagd auf die Maus war im vollen Gange. Der geheimnisvolle Verfolger stieß einen Säulenwacholder um, rammte sich am Zaun die Schulter und verfing sich mit den Haaren in der Hecke, unter der die Maus verschwand.
Anfänger!, dachte die Katze. Sie schnurrte vor Schadenfreude.
Plötzlich tauchten zwei riesengroße, funkelnde grüne Augen vor der Katze auf. Wie aus dem Nichts. Der Mäusejäger stand vor ihr. Er stand in der Luft. Zwei messerspitze weiße Eckzähne leuchteten im Dunkeln auf. Von ihnen rann Speichel.
Die Katze war intelligent und weise. Und sie war schnell. Bevor das fliegende Messerzahnwesen die Pranken nach ihr ausstrecken konnte, machte sie einen Satz zur Seite und lief um ihr Leben. Sie sprang von einem Reihenhausdach zum nächsten. Sie drehte sich nicht um. Erst am anderen Ende des Lindenwegs hielt sie inne. Sie lauschte. Sie spähte in die Nacht. Vom Messerzahnwesen war nichts zu hören. Nichts zu sehen. Und nichts zu riechen. Trotzdem beschloss die Katze, den Lindenweg zu verlassen. Vielleicht musste sie sich ein neues Revier suchen. Vielleicht würde sie nie mehr in den Lindenweg zurückkehren. Sie würde den Jungen mit den Fischstäbchen vermissen. Aber die Katze war weise. Ein Raubtier in einem Revier war genug.
Die Katze
Weitere Kostenlose Bücher