Herzflimmern
saß, hatte sie einen herrlichen Blick auf Diamond Head. Sie hatte es gern ruhig und war viel für sich. Wenn sie frei hatte, saß sie am liebsten zu Hause und las oder hörte klassische Musik. Wenn es sie gerade lockte, machte sie in ihrem kleinen Auto auch einmal eine Fahrt über die Insel. Sie hatte Freunde, aber sie scheute große Geselligkeit. Ihre engsten Freunde waren Toby Abrams, der jetzt seine eigene Praxis hatte, und seine Frau; immer wieder einmal versuchten die beiden, Mickey mit einem passenden Mann zu verkuppeln.
Mickey hatte gegen diese Bemühungen nichts einzuwenden, aber bisher waren sie erfolglos geblieben. Die Männer waren immer nett und sympathisch gewesen, aber gefunkt hatte es nie.
An diesem windigen Morgen im März, dem Beginn ihres freien Wochenendes, wollte Mickey zu einer gemütlichen Fahrt um die Insel starten. Sie hatte erst vor kurzem begonnen, sich mit ihrer tropischen Heimat so richtig vertraut zu machen und Oahu wie eine Touristin mit Fotoapparat und Badezeug zu erkunden. An diesem Tag wollte Mickey ins Polynesische Kulturzentrum auf der Nordostseite der Insel, wo man das Modell einer typischen Südsee-Siedlung aufgebaut hatte. Unterwegs wollte sie am Blow Hole und am Chinaman’s Hat fotografieren.
Die Surfer würde sie diesmal nicht fotografieren.
Jason Butlers Tod war für alle ein Schlag gewesen – für Mickey, für die anderen Ärzte, die mit dem Fall befaßt gewesen waren, und für die Schwestern auf der Intensivstation. Nach jenem ersten Moment in der Notaufnahme, wo Jason in Schmerz und Verwirrung zu Mickey aufgesehen hatte, hatte er das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Sein Vater hatte vierzehn Tage lang nahezu Tag und Nacht an seinem Bett gesessen und auf ein Lebenszeichen des Jungen gehofft, doch Jason war nie wieder aus dem Koma aufgewacht.
Harrison Butler hatte Mickey das letztemal am Abend von Jasons Tod gesehen, als man sie aus dem Restaurant ins Krankenhaus gerufen hatte. Als sie ins Krankenzimmer gekommen waren, hatten die Schwestern {236} schon alle Apparate abgestellt und das Laken bis zu Jasons Hals heraufgezogen. Sein Kopf war bandagiert gewesen, man hatte kaum etwas von ihm erkennen können. Ebensogut hätte ein Fremder da liegen können; irgend jemands Sohn. Nicht tot, nur im Schlaf. Mickey und die Schwestern hatten Harrison mit seinem toten Sohn allein gelassen. Er blieb lange in dem kleinen Raum, und als er herauskam, war sein Gesicht bleich und eingefallen, aber sonst zeigte es keine Regung. Harrison hatte allen die Hand gegeben und jedem Einzelnen für seine Bemühungen gedankt. Dann war er gegangen.
Vier Monate war das her. In dieser Zeit hatte Harrison Butler sich nur einmal gemeldet; er hatte dem Great Victoria Krankenhaus einen CAT Scanner gestiftet, einen der revolutionierenden neuen Diagnoseapparate zur Entdeckung von Gehirnschäden.
Nachdem Mickey ihre Tasche gepackt hatte, steckte sie noch die beiden Briefe ein, die sie unterwegs aufgeben wollte. Der eine war an Ruth gerichtet, Glückwünsche zur Geburt der kleinen Leah; der andere an Sondra und Derry, die in zwei Wochen ihren vierten Hochzeitstag feiern würden.
Als Mickey die Balkontür schloß, blickte sie noch einmal zum Diamond Head hinaus, der in majestätischer Größe in den strahlend blauen Himmel hineinragte. An seinem Fuß glänzten weiße Häuser, Palmen und Gärten im Frühlingsflor. In einer dieser Straßen hatte Mickey ihre erste eigene Praxis. Mit Hilfe eines Kredits hatte sie sie bereits eingerichtet und eine Sprechstundenhilfe sowie eine Arzthelferin engagiert. In drei Monaten würde sie anfangen. Sie würde morgens aufstehen und nicht, wie in den vergangenen sechs Jahren, zum Krankenhaus hinübergehen. Sie würde das kurze Stück zu Fuß gehen, ihre Jacke und ihre Tasche in ihren eigenen Räumen aufhängen und sich dann an ihren eigenen Schreibtisch setzen, um ihre Patienten zu empfangen.
Nur noch drei Monate.
Habe ich eigentlich Angst davor? fragte sie sich. Ja, ein wenig schon. Für diese Praxis da unten habe ich die letzten zehn Jahre gerackert. Und jetzt, wo ich sie habe, macht es mir tatsächlich ein wenig Angst.
In drei Monaten würde Mickey endlich frei sein, konnte leben wo und wie sie wollte, konnte arbeiten, wo sie wollte, lieben, wen sie wollte. Aber es wartete niemand auf sie.
Gerade als sie zur Tür hinaus wollte, klingelte das Telefon. Stirnrunzelnd hob sie ab. Im Krankenhaus wußte man, daß sie nicht im Dienst war.
»Hallo?«
{237}
»Mickey?« Die
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