Herzflimmern
nach Sonnenuntergang zu beißen an. Ich hätte Ihnen das sagen müssen.«
Sie reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für alles, Alec. Sie haben mir den ersten Tag hier ungeheuer erleichtert.«
Er umfaßte ihre Hand einen Moment mit beiden Händen und sagte: »Wenn Sie etwas brauchen, ich bin gleich nebenan.«
Im Licht der Sturmlampe kleidete sie sich aus. Sie war viel zu müde, um jetzt noch lange über ihr neues Leben nachzudenken. Dazu war in den kommenden 364 Tagen noch Zeit genug. Jetzt wollte sie nur schlafen und sonst gar nichts.
Sie wollte gerade die Bettdecke aufschlagen, als sie mit dem Kopf gegen das Moskitonetz stieß, das zu einem Knoten zusammengedreht über ihrem Bett hing. Alec hatte sie ausdrücklich ermahnt, es vor dem Schlafengehen herunterzulassen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, das Netz zu entwirren, kramte Sondra ihren Morgenrock aus dem Koffer.
Draußen war alles dunkel. Die Mission war wie ausgestorben. Nur durch {143} wenige Fenster schimmerte Licht, die Stille war beinahe beängstigend. Sie huschte eilig zur Nachbarhütte und klopfte leise. Der Lichtschein hinter den Vorhängen sagte ihr, daß Alec noch wach war.
Als sich die Tür öffnete, war sie erst verblüfft, dann verlegen. Derry Farrar stand vor ihr, mit nacktem Oberkörper.
»Ich – äh –« begann sie und wäre am liebsten im Boden versunken. »Das Moskitonetz. Ich krieg’s nicht runter.«
Er nickte. »Ja, das ist am Anfang ein bißchen schwierig.«
Als er herauskam und an ihr vorbeiging, sah Sondra flüchtig das Innere seiner Hütte. Es war beinahe so spartanisch wie bei ihr, als bewohnte er die Hütte erst seit kurzer Zeit. Einziger Luxus war ein bequemer Ledersessel, auf dessen Sitz ein aufgeschlagenes Buch lag.
Sie blieb unsicher an der Tür zu ihrer Hütte stehen, während er das Moskitonetz löste. Er zeigte ihr, wie man den Knoten aufmachte, aber Sondra konnte nur noch die Muskeln seines Oberkörpers und seiner Arme anstarren.
»So«, sagte er und schüttelte das zusammengedrehte Netz auseinander, »jetzt kommt der schwierige Teil. Sie stopfen es an drei Ecken unter die Matratze, dann klettern Sie ins Bett und verankern hinter sich die vierte Ecke. Sie müssen aufpassen, daß Sie nirgends eine Lücke lassen, durch die die Mücken reinkönnen. Kommen Sie, diesmal mach ich’s Ihnen.«
Er richtete sich auf und wartete. »Na kommen Sie schon«, sagte er leise. »Ich hab’ nicht die ganze Nacht Zeit.«
Zögernd schlüpfte Sondra aus ihrem Morgenrock, faltete ihn sorgfältig und legte ihn wieder in ihren Koffer. Derry trat zurück, als sie ins Bett stieg, dann schob er rasch und geschickt das Moskitonetz rundherum unter die Matratze. Sie hockte auf der leicht schwankenden Matratze und sah ihm zu. Als er fertig war, ging er zur Tür. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, doch als er sprach, hatte sie den Eindruck, als lächelte er.
»Üben Sie«, sagte er. »Ich kann Sie nicht jeden Abend ins Bett packen. Gute Nacht.«
Sondra streckte sich auf den steifen Laken aus, die nach Krankenhausseife rochen, und hoffte, sie würde gleich einschlafen. Aber der Schlaf kam nicht. Sie bekam langsam Zweifel, daß sie je wieder würde ganz normal schlafen können. Die Assistenzzeit war schuld; nicht eine Nacht ungestörten Schlafs, niemals eine köstliche ununterbrochene Acht-Stunden-Spanne der Erholung. Wenn nicht das Telefon oder der Piepser einen herausriß, dann quälten einen schreckliche Träume und verhinderten, daß man zur Ruhe kam. Ihre Assistenzzeit hatte vor zwei Monaten {144} geendet, aber trotz der achtwöchigen Erholungspause im Haus ihrer Eltern hatte Sondra nicht zu normalen Schlafgewohnheiten zurückgefunden.
Sondra schloß die Augen und horchte in die nächtliche Stille.
Das Jahr ihrer Assistenzzeit am St. Catherine’s war ein seltsames Jahr gewesen, eine Zeit, die man niemandem beschreiben konnte, der nicht selber so etwas erlebt hatte. Zwölf Monate ohne Freunde, weil dazu keine Zeit blieb; keine Bücher, kein Kino, kein Fernsehen; nicht ein einziger Tag außerhalb der Mauern des Krankenhauses, keine normalen menschlichen Beziehungen, keine Möglichkeiten, Emotionen zu verarbeiten, einmal innezuhalten und sich zu besinnen. Die Angst ist der Lehrmeister, und das Werkzeug sind Panik und Schweiß, denn Fehler sind in der Medizin nicht wiedergutzumachen; entweder man macht es beim erstenmal richtig oder man kann der Obduktion beiwohnen. Unzählige Dinge hatte Sondra zu tun gelernt,
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