Herzflimmern
zu müde, um irgend etwas mit ihr zu unternehmen. Ich verschlafe das ganze Wochenende. Das ist doch ein völlig unnatürliches Leben, Mickey. Man rackert sich dreißig Stunden an einem Stück ab, kommt kaum zum Schlafen oder zum Essen, muß dauernd Angst haben, daß man eine falsche Entscheidung trifft. Und wenn ich schon einmal Zeit zum Schlafen finde, renne ich sogar im Traum ständig hier durch die Korridore und wache dann meistens völlig verspannt und erschöpft auf. Nein, Mickey –« Er schüttelte den Kopf – »ich kann nicht mehr.«
Mickey betrachtete ihn mitleidig und sah sich selber, wie sie vor einigen Stunden gewesen war, ausgepumpt, entmutigt, bereit, das Handtuch zu werfen. Genauso wie Toby jetzt hier saß, hatte sie selber vor drei Stunden dagesessen und hatte das gleiche gedacht: Ich kann nicht mehr. Aber im Operationssaal waren Niedergeschlagenheit und Untergangsstimmung wie durch Zauber von ihr abgefallen, sie hatte Zuversicht und Hingabe wiedergefunden.
»Wie halten Sie das nur aus?« fragte Toby. »Wie können Sie Tag für Tag hier in diese Fabrik marschieren und schuften wie ein Roboter? Wo alles so sinnlos ist!«
»Es ist nicht sinnlos, Toby, das wissen Sie doch. Stellen Sie sich mal eine Waage vor, so eine, wie sie die Justitia in der Hand hält, und legen Sie in die eine Schale alle Ihre Erfolge und in die andere alle Ihre Mißerfolge. Nach welcher Seite neigt sich die Waage?«
»Der Vergleich stimmt nicht, Mickey. Ein tödlicher Fehler wiegt schwerer als hundert Erfolge.«
»Falsch. Jeder Erfolg, den Sie errungen haben, kam nämlich als potentieller Mißerfolg hier ins Krankenhaus.«
»Sie reden wie Dr. Shimada. Er sagt immer, wir sollen nicht die Patienten zählen, die wir retten, sondern die, die wir nicht umbringen.« Toby lachte kurz auf. Dann straffte er die Schultern. »Ich halte das nicht noch weitere acht Monate durch, Mickey. Der Juli ist mir einfach zu weit weg.«
»Okay, dann geben Sie auf. Der Juli kommt trotzdem, ob Sie durchhalten oder nicht.«
Mickey zog ihren Arm von seinen Schultern und lehnte sich zurück. Ihr fiel ein, was sie selber noch vor wenigen Stunden gedacht hatte: Wenn {171} ich hier rauskomme, bin ich einunddreißig Jahre alt. Jetzt lautete ihre Entgegnung: Und wie alt bin ich in fünf Jahren, wenn ich jetzt aufgebe?
Die Tür öffnete sich. Eine Schwester schaute herein.
»Dr. Abrams? Wir brauchen Sie für eine Punktierung.«
Er streckte sich, als versuchte er, seinen Körper aus der Erstarrung zu lösen. Im Aufstehen sagte er zu Mickey: »Ich bin einfach hundemüde. Ich werd’ immer quengelig, wenn ich mein Mittagsschläfchen versäumt habe.«
»Sie sind ein guter Arzt, Toby. Geben Sie nicht auf.«
»Hm«, machte er nur lächelnd, dann ging er mit großen Schritten hinaus.
Mickey nahm sich einen Apfel von der Obstschale und dachte an Gregg. An dem Tag, an dem sie ihm begegnet war, war sie am gleichen Punkt gewesen wie Toby heute. Sie hatte sich nutzlos und unfähig gefühlt und sich gefragt, ob sie überhaupt weitermachen solle. Da hatte Gregg sie auf eine Art angesehen, die ihr zu Bewußtsein gebracht hatte, daß sie immer noch eine Frau war, eine schöne, blühende Frau, und sie war ihm, so sehr aus Dankbarkeit wie aus einem Gefühl des Zu-ihm-Hingezogenseins, in die Arme gefallen. Nicht unbedingt eine solide Basis für eine lebenslange Beziehung. Zumal in den zwölf Monaten ihres Zusammenseins die Liebe, auf die sie gehofft hatte, sich bei ihr nicht eingestellt hatte.
Als das Telefon summte, hob Mickey von neuer Kraft beschwingt den Hörer ab. Das kommende Wochenende hatte sie frei. Sie würde wieder in das Krankenhaus-Wohnheim ziehen, wo sie zu Beginn ihrer Assistenzzeit gewohnt hatte. Vielleicht würde sie sich einen gebrauchten Wagen kaufen und in ihrer kostbaren Freizeit ein bißchen herumkutschieren, die Insel erkunden, wandern, schwimmen, sich einfach Raum zu schaffen, um frei zu atmen …
»Mickey«, sagte die Schwester von der Notaufnahme, »Mr. Johnson, den Sie vor zwei Wochen nach seiner Magenoperation entlassen haben, ist eben eingeliefert worden. Akute Unterleibsbeschwerden …«
Mickey nahm sich noch einen Apfel und flitzte hinaus.
20
Derry Farrar trat in die frische Januarsonne und betrachtete die Hektik vor seiner Hütte. Die Safari war fertig zum Aufbruch. Er zog eine Packung Crown Birds aus der Tasche und zündete sich eine der Zigaretten {172} an. Schon nach zwei Zügen warf er sie zu Boden und trat sie aus. Sein
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