Herzgefaengnis
irgendwie auf Sparflamme. Um seinen Mund spielte ein zufriedenes Lächeln. Aber nicht das eines strahlenden Siegers.
Im Gesicht war er ein wenig schmaler geworden. Und die Ringe unter seinen Augen ließen ihn blasser aussehen, als er sonst war. Sein Haar war so kurz - wie sollte ich mich je daran gewöhnen, nicht mehr in seinen Locken wühlen zu können?
Trotz seiner E-Mail und der miserablen Meinung, die er von mir hatte, sehnte ich mich in diesem Moment nach ihm wie ein Verdurstender nach einem Glas Wasser. Oh du meine Güte. Wenn ich ihn nur noch einmal sprechen könnte. Ein einziges Mal die Goldpünktchen in seinen Augen sehen könnte. Oder vielleicht seine Hand nehmen … bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass ich ihn wiedersehe.
Ich musste mit ihm reden. Jetzt. Heute.
Mir kam eine Idee. Ich kramte in meiner Handtasche nach einem Notizblock – natürlich vergebens. Immer, wenn man aus seiner Handtasche etwas braucht, kann man Gift drauf nehmen, dass es in der anderen ist. In der, die zu Hause geblieben ist. Ich betrat das Clubhaus und wurde fündig an der Bar, wo ein großer und schlaksiger Jüngling zu lauter Musik Bier zapfte. Er gab mir einen Bestellblock, wie ihn die Kellner benutzen. Ein Kugelschreiber war auch da. „16:00 Uhr Bootshaus. Versetz mich nicht“, schrieb ich auf den ersten Zettel. Den klemmte ich unter die Scheibenwischer seines Autos. Auf einen zweiten Zettel schrieb ich „Ich erwarte dich um 16:00 Uhr im Bootshaus. Bitte komm.“
Ich blickte mich um. Da waren ein paar Jungen, so zwischen 12 und 14 Jahren alt. Sie trugen dieselben engen Oberteile wie der Achter und hielten Handys und Digicams in die Luft, um ihre Vorbilder zu fotografieren.
Ich zückte einen 5-Euro-Schein. „Äh Jungs, habt ihr schon was vor in den nächsten 10 Minuten?“
„Was ´n los?“
„Könnt ihr das hier dem Leo geben? Dem Leo König?“ Ich hielt dem am nächsten stehenden Jungen den zweiten Zettel und das Geld hin. „Aber sagt nicht, von wem der ist – das soll eine Überraschung sein.“ Der Junge blickte hinter sich und schob einen kleineren blonden Jungen mit sehr vielen Sommersprossen nach vorne. Der schien ein wenig jünger als die anderen.
„Los, Jonas. Hier kannst du dein erstes Geld verdienen. Geh´ mal hin zu Leo und mach´, was die Dame gesagt hat“, forderte er den Kleineren auf. Zu mir gewandt, sagte er: „Das ist mein kleiner Bruder, wissen Sie. Der hat noch keine Ahnung vom Geldverdienen.“
„Aber du schon?“, wollte ich wissen.
„Na klar. Ich trage Zeitungen aus. Los, Jonas. Die Kohle kriegst du, wenn du wieder hier bist.“
Er entriss mir den Geldschein und schob den kleineren Jungen mit meiner Botschaft in der Hand von sich weg. Der blickte sich misstrauisch nach ihm um und maulte: „Aber wehe, ich kriege das Geld nicht. Dann bist du dran.“
Wider Willen musste ich bei diesen Worten grinsen. „Keine Angst, ich achte schon drauf, dass du es bekommst.“
Zielstrebig machte sich der Junge auf zu den Umkleidekabinen.
Die Älteren musterten mich neugierig, aber nicht ablehnend.
„Und warum machen Sie das jetzt nicht selbst?“, fragte einer.
„Hallo – was würdet ihr denn sagen, wenn plötzlich eine fremde Frau in eurer Kabine steht?!“
Sie nickten. Dieses Argument schien ihnen einzuleuchten.
Die Zeit schien plötzlich langsamer zu vergehen. Träge bewegten sich dunkle Wolken über den Himmel. Der Lautsprecher am See verkündete ständig neue Durchsagen, Männer und Frauen trugen große und kleine Ruderboote an mir vorbei. In den Geruch des Sees und der feuchten Wiese, auf der wir standen, mischte sich der Duft von Bratwürsten, die jemand ungeachtet des andauernden Nieselregens auf der Terrasse grillte. Ich blickte zum dritten Mal auf die Uhr. Endlich. Es war kurz vor vier Uhr.
Das Bootshaus war nicht schwer zu finden.
Es hatte ein breites Tor, das offenstand. Drinnen umfing mich Halbdunkel, und der typische Geruch nach Holzanstrich schlug mir entgegen. In fünfstöckigen Stahlgestellen waren die unterschiedlichsten Ruderboote aufgestapelt. An der Decke in jedem Gang ein Flaschenzug. Ich ging nach hinten, ins Dunkle. Musste ja nicht sein, dass man mich schon von draußen sehen konnte. In der Ecke, die am weitesten vom Eingang entfernt war, standen zwei Campingstühle mit sonnengebleichter Stoffbespannung, schon ein wenig verschlissen. Dazwischen auf der Erde ein Aschenbecher, der von Kippen überquoll.
Ich ließ mich auf einem der Campingstühle
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