Herzgespinst - Thriller
einen Luftkuss zu.
»Ausfallstunden nachgeholt«, antwortete Julia wortkarg. »Ging nicht anders. Damit wir mit dem Stoff nicht hinterherhängen.« Ihre Mutter musste wirklich nicht alles wissen. Was sie in der Stadt trieb, ging sie gar nichts an.
»Frau Fuhrmann war doch ewig krank. Zeckenbiss. Hat doch jeder gerade.«
Sie log ihre Mutter nicht wirklich gerne an. Aber es kam immer häufiger vor. Ihre Mutter hatte einfach zu unterschiedliche Vorstellungen davon, was für Julia wichtig sein sollte. Schule und vor allem das Abitur gehörten für Julia nicht ganz oben auf die Liste. Lieber wollte sie vorher abgehen und endlich eigenes Geld verdienen. In die Großstadt ziehen und leben . All die vielen Dinge machen, die hier nicht möglich waren oder die ihre Mutter zu verhindern wusste.
Das einzige Fach, in dem Julia wirklich glänzte, war Mathematik. Vielleicht konnte sie später sogar Oliver managen, wenn er erst einmal bekannter wurde. Sie waren ein echtes Dreamteam, auch wenn er sie manchmal bis zur Weißglut ärgerte. Gerade am Brunnen hätte sie ihn am liebsten auf den Mond geschossen. Aber zum Glück hielt ihre Wut nie lange an. Er war einfach viel zu besonders.
Das hatte selbst ihr Vater gemerkt und ihn deshalb wie seinen Sohn behandelt. War aber völlig ok gewesen.
»Kannst du mir noch mit den Kartoffeln helfen, Julia?«, fragte ihre Mutter. »Ich muss morgen möglichst viel davon auf den Markt bringen. Ich kann mich vor Bestellungen kaum retten.« Sie richtete sich stöhnend auf und griff sich in den Rücken.
Julia verzog das Gesicht. Sie verabscheute Gartenarbeit. Doch dass sie ihrer Mutter im Garten und auf dem Markt aushalf, fand diese selbstverständlich. Deshalb war das gerade auch keine wirkliche Bitte gewesen, sondern eher eine Anweisung.
Solange ihr Vater gelebt hatte, betrieben ihre Eltern einen gut funktionierenden Bauernhof mit Ackerbau und Milchkühen. Nach seinem Tod hatte ihre Mutter das Land und die Kühe verkauft und sich auf Gemüseanbau spezialisiert. Das war viel Arbeit und brachte viel weniger Geld ein als die Landwirtschaft. Seitdem mussten sie jeden Cent zweimal umdrehen und Julia bekam nur einen Bruchteil von dem Taschengeld, das eine Sechzehnjährige brauchte, um mit den anderen Mädchen in ihrer Klasse mitzuhalten. So verdiente sie sich mit Prospekteverteilen noch etwas dazu.
»Tut mir leid, Mama«, sagte Julia. »Ich hab keine Zeit. Ich muss um fünf die Baumarkt-Prospekte abholen, die soll ich bis übermorgen verteilen. Und außerdem habe ich jede Menge Hausaufgaben auf. Du willst doch, dass mein Zeugnis gut wird.« Sie umarmte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss.
Ihre Mutter machte ein enttäuschtes Gesicht. »Das ist ja Pech. Dann kann ich morgen eben nur die Hälfte liefern.« Sie setzte ihre Arbeit fort.
»Hast du mir was zu essen gekocht, Mama?«, fragte Julia. »Ich habe einen Bärenhunger.«
Ihre Mutter nickte, ohne aufzuschauen. »Bohnen mit Stampfkartoffeln und Rote-Beete-Salat«, antwortete sie. »Steht alles auf dem Küchentisch. Die Bohnen sind nicht mehr ganz warm, ich dachte, du kommst früher nach Hause. Pack sie kurz in die Mikrowelle.«
Julia verzog das Gesicht. »Schon wieder Bohnen. Ich hätte gerne mal wieder Eierkuchen mit Pflaumen und Zimtzucker, so wie früher.«
Ihre Mutter schüttelte verärgert den Kopf. »Julia, ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht. So ein Gericht kannst du dir auch alleine machen. Du benimmst dich in der letzten Zeit wirklich wie eine verwöhnte Prinzessin. Wenn dein Vater noch am Leben wäre, dann …«
Julia flüchtete sich eilig in die Küche. Auf einen Vortrag dieser Art hatte sie wirklich keine Lust. Sie setzte sich an den Tisch und schaufelte die Bohnen mit den kalten Stampfkartoffeln lustlos in sich hinein. Nicht einmal einen Teller nahm sie sich dafür, sondern sie aß direkt aus der Pfanne. Von wegen Prinzessin. Aschenputtel war sie.
Sie beobachtete ihre Mutter durch das Küchenfenster und erkannte, wie diese sich abquälte. Anscheinend ging es ihr mit ihrem Rücken schlechter, als Julia gedacht hatte. Augenblicklich ergriff sie ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Sie merkte auf einmal selber, wie egoistisch sie sich benommen hatte und ihr schossen Tränen in die Augen.
Sie hätte sich gerne entschuldigt, aber dann wäre womöglich alles wieder von vorne losgegangen. Sie hatte keine Lust mehr, sich anzuhören, wie schön ihr Leben gewesen war, bevor ihr Vater starb.
Er war tot. Und das war schlimm
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