Herzgespinst - Thriller
viele Kleidungsstücke. Die Fächer waren halb leer. Neben ein paar Kindersachen, die ihm bestimmt nicht mehr passten, fand sie einige Jeans, einen schmalen Stapel T-Shirts und den dunkelblauen Marinepullover, der früher ihrem Vater gehört hatte. Sie nahm ihn in beide Hände und presste ihn gegen ihr Gesicht.
Schlagartig wurde ihr schwindelig. Er roch gleichermaßen nach Oliver und nach dem Rasierwasser ihres Vaters. Eine ungeheure Sehnsucht erfasste sie. Der Unfall hätte niemals passieren dürfen.
Julia schwankte. Sie schaffte es gerade noch zum Bett und ließ sich in die Kissen fallen. Lautlos schluchzte sie in den Pullover. Als der Heulkrampf vorüber war, blieb sie kraftlos liegen.
»Julia?« Olivers Stimme drang an ihr Ohr. Erschrocken richtete sie sich auf.
Oliver stand blass und verschlafen mitten im Zimmer.
Julia starrte Oliver wie einen Geist an. »Wo kommst du denn auf einmal her?«
Oliver näherte sich verwundert. »Dasselbe könnte ich dich fragen. Wo kommst du her?«, wiederholte er. »Und wie bist du überhaupt hereingekommen?«
Julia schluckte. Ihre Kehle fühlte sich schlagartig so trocken an, dass ihr das Weitersprechen schwerfiel.
»Ich hatte …« Sie zögerte plötzlich. »Die Tür … Stell dir vor, die Wohnungstür war gar nicht richtig im Schloss eingeschnappt, da hätte ja jeder was klauen können und da bin ich einfach rein, um auf dich zu warten.« Sie räusperte sich.
Oliver schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber ich war doch die ganze Zeit hier. Bin wohl auf der Küchenbank eingeschlafen. Ich hab mal wieder Migräne.«
Julia zuckte hilflos mit den Achseln. »Da hab ich nicht nachgeguckt. Hast du mich nicht klopfen hören?« Ihr fiel auf, dass sie immer noch den Wollpullover umklammert hielt, und ließ ihn los wie eine heiße Kartoffel.
»Und was hast du in meinem Schrank gesucht?«, fragte Oliver misstrauisch und zeigte auf den Pullover. »Du weißt genau, das kann ich nicht leiden.«
Julia kaute schuldbewusst auf ihren Fingernägeln herum.
»Mir war kalt. Bestimmt wegen dem Piercing. Ich suchte ein Sweatshirt und dabei habe ich Papas Pullover gefunden und da wurde mir ganz schummrig und deshalb …« Sie sprach plötzlich mit dieser winzigen Kinderstimme, der Oliver schon früher nichts abschlagen konnte. Ihre Unterlippe bebte und in ihren Augen standen zwei dicke Tränen.
Im nächsten Schritt war er bei ihr und nahm sie in seine Arme.
Julia begann laut zu weinen.
»Pscht!«, sagte er beruhigend. »Pscht. Ist doch gleich wieder gut.« Er wiegte sie wie ein kleines Kind in seinen Armen.
»Nichts wird wieder gut«, jammerte sie und drückte sich an ihn. »Niemals.«
Noch vor Kurzem hätte ihr Oliver recht gegeben. Aber heute hatte er einen Job als Frontsänger bei Underground bekommen und er sah zum allerersten Mal Licht am Horizont.
8
V erlobt?«, wiederholte Julia ungläubig. »Ist deine Mutter krass. Unfassbar.«
Sie saß auf dem angenehm kühlen Brunnenrand und plantschte mit den nackten Füßen im lauwarmen Wasser herum.
Nachdem sich Julia beruhigt hatte, waren sie Hand in Hand in den kleinen Park gelaufen, der sich ganz in der Nähe von Olivers Wohnung befand. Sie waren ganz alleine, selbst der Spielplatz schien verwaist. An kälteren Tagen tummelten sich jede Menge Kinder dort. Besonders beliebt war die Ritterburg aus Holz. Selbst heute kletterte Julia noch gerne ganz nach oben in den Turm und stellte sich vor, sie wäre ein Burgfräulein oder Rapunzel.
»Ja, und ihr Typ sah aus wie ein Schneemann aus dem Sonnenstudio«, lachte Oliver. »Sie wollen so schnell wie möglich Kinder.« Nach dem ersten Schock kam ihm die Sache eher komisch vor, auch wenn die Kopfschmerzen seinen Schädel immer noch zu einem winzigen Würfel zusammenpressten.
»Echt gruselig«, sagte Julia erschüttert. »Es tut mir so leid, Oliver.« Sie bespritzte ihn mit einer Handvoll Wasser.
»Ahhh, du Ferkel!« Er schaufelte eine Ladung zurück und traf ausgerechnet ihren Nabel.
»Mist. Sorry, Julia!«, rief er erschrocken. »Das wollte ich nicht. Bestimmt haben die Kids in den Brunnen gepinkelt.« Er zog kurzerhand sein T-Shirt aus und tupfte ihren Bauch behutsam trocken. »Wann holst du das Desinfektionszeug ab?«
Wie ein Zauberer zog Julia das Fläschchen aus ihrer Hosentasche und hielt es Oliver hin. »Hat mir Luis spendiert«, sagte sie.
»Luis?« Oliver runzelte die Stirn.
»Na, der Gitarrist aus deiner neuen Band. Ich habe ihn vorhin getroffen. Wir haben richtig nett geredet.
Weitere Kostenlose Bücher