Herzgesteuert: Roman (German Edition)
hellblauen Hemd, auf dem ein paar goldene Abzeichen angebracht sind, eine dunkelblaue Hose mit Bundfalten, und ihre braunen schulterlangen Haare umrahmen ein schmales, besorgtes, gütiges Gesicht. Diese Frau schläft nicht gut. Sie nimmt die Probleme der ihr anvertrauten Menschen mit ins Bett. Sie ist keine, die ihren Job bei Feierabend mit der Uniform an den Nagel hängt.
»Hallo, ich bin Daniela Verdugo-Althöfer und froh, dass Sie zu mir kommen.« Ihr Händedruck ist überraschend fest für die zerbrechlich wirkende Hand. »Setzen Sie sich doch bitte. Frau Hempel, richtig?«
Ich nicke und kann es gar nicht fassen. Sollte in all dem Elend ein Hauch von Menschlichkeit und Güte vorhanden sein?
Das Büro strahlt trotz seiner Schlichtheit eine weibliche Note aus: Auf dem runden Tisch liegt eine dunkelrote Tischdecke, Blumen stehen darauf und ein Krug mit Wasser. Auf ihrem gro ßen alten Schreibtisch stehen Fotos von ihrer Familie in kleinen Silberrahmen, und ein paar Teppiche bedecken den Boden. Ich bin ja so erleichtert, dass hier eine Frau das Zepter in der Hand hat!
»Danke, dass Sie sich Zeit nehmen«, beginne ich, während ich mich mit wackeligen Knien auf einen der Stühle sinken lasse. »Aber ich kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen und so tun, als wenn nichts wäre.«
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragt die Direktorin aufmunternd.
Auf einmal bin ich so erschöpft, dass ich mich nicht mehr rühren kann. »Ich habe so was noch nie gemacht … also jemanden im Gefängnis besucht. Und ich bin noch einigermaßen überwältigt …«
Sie nickt verständnisvoll, und schenkt mir ein Glas Wasser ein. »Sie haben Herrn Sander besucht?«, fragt sie freundlich und blättert in ihren Akten.
»Ich weiß nur seinen Vornamen. Georg«, gestehe ich verwirrt.
»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?« Frau Verdugo-Althöfer blickt interessiert über den Rand ihrer Brille.
»Er ist mir quasi … zugelaufen.« Ich mache eine fahrige Handbewegung, die das Ganze irgendwie runterspielen soll. Ich fühle mich wie eine Schülerin, die ihrer Direktorin etwas beichten muss, einen dummen Streich oder eine geschwänzte Schulstunde.
»Sie sind also nicht mit ihm verwandt oder verschwägert?«
»Nein! Gott bewahre, nein!« Mir wird auf einmal ganz schwindelig, und ich muss einen Schluck Wasser trinken. »Wir kennen uns quasi kaum!«
»Und warum liegt er Ihnen dann so am Herzen?« Sie hält einen Moment lang meinen Blick fest, dann lächelt sie warm.
»Na ja …« Ich breite hilflos die Hände aus. »Ich hatte das Gefühl, dass er niemanden sonst hat, und das stimmt ja auch, er hat niemanden sonst. Und da fühle ich mich jetzt einfach ein bisschen verantwortlich für sein … Wohlergehen!«
»Das ist für eine Justizvollzugsanstalt ein dehnbarer Begriff.« Sie sagt das so trocken, dass ich unwillkürlich ein wenig lächeln muss.
»Er hat mir gesagt, dass er in einer Sechserzelle untergebracht ist.«
»Das stimmt«, bestätigt die Direktorin. »Leider verfügen wir hier in dieser Justizvollzugsanstalt nicht über die woanders üblichen Zweierzellen, die auch viel moderner eingerichtet sind«, sagt sie ruhig und freundlich. »Aber in ein paar Jahren wird das Gefängnis modernisiert und auf eine große Fläche in der Nähe der Autobahn verlegt.«
Ich springe so heftig auf, dass das Wasser aus dem Krug auf die Tischdecke spritzt und mein Glas bedenklich wackelt.
»Das nützt aber dann Georg nichts mehr! – Wissen Sie, was sie mit ihm machen?«
»Ich kann es mir vorstellen«, räumt sie ein. »Das ist leider so in der haftinternen Hierarchie. Kinderschänder sind für die anderen das Letzte, auch wenn ihre Schuld noch nicht bewiesen ist.«
Ich wirbele herum. »Aber das können Sie doch nicht einfach dulden!«
Sie seufzt. »Manchmal habe ich gar keine andere Wahl – bei diesen Platzproblemen …«
Okay. Jetzt könnte ich wirklich schreien. Wahrscheinlich fängt sie gleich noch mit der Politik an und mit den nächsten Landtagswahlen.
»Aber das sind Menschen, die da unschuldig gequält werden! Und zwar in diesem Moment!«, brülle ich plötzlich so laut los, dass ich selbst erschrecke. »Und wissen Sie was, ich kenne diesen Mann besser, als ich es eben zugeben wollte. Er ist ein absolut feiner Kerl, ein hilfsbereiter, gebildeter Mann, der es nach einem Flugzeugabsturz nicht mehr geschafft hat. Er hat seine schwangere Frau und seinen besten Freund verloren, er hat niemanden mehr, und ich bin von seiner Unschuld
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