Herzgesteuert: Roman (German Edition)
Auf etwa vier Quadratmetern sitzen wir uns an einem kargen Holztisch gegenüber. Langsam bekomme ich klaustrophobische Anfälle.
»Fanny hat sich in letzter Zeit hervorragend gemacht«, teilt mir der Lehrer mit einiger Überraschung in der Stimme mit. »Von einer Fünf auf eine Zwei! Das erlebe ich auch nicht alle Tage!« Erfreut sieht er mich an: »Es besteht also kein Anlass zur Sorge!«
»Wegen Fanny mache ich mir auch keine Sorgen«, komme ich gleich zum Thema. »Aber wegen Vicki.«
»Vicki?« Täusche ich mich, oder schießt ihm die Röte ins Gesicht? Er springt auf und öffnet verbotswidrig das Fenster, woraufhin uns kalte Novemberluft um die Ohren schlägt. Rottmeier dreht sich wieder zu mir um und lässt sich auf seinen Schemel fallen: »Vicki! Das wäre allerdings ein Thema!« Er räuspert sich, öffnet seinen Hemdkragen und verschränkt die Arme vor der Brust: »Allerdings muss ich das mit Vickis Mutter besprechen, nicht mit Ihnen!«
»In diesem Falle geht mich das sehr wohl etwas an«, falle ich dem Lehrer ins Wort. »Wissen Sie, in welchen Kreisen Vicki sich aufhält?«
»Sie war schon in den beiden höheren Klassen eine Problemschülerin …« – Herr Rottmeier blättert in seinen Unterlagen -, »… allerdings haben mir ihre Klassenlehrer nicht gesagt, in welchen Kreisen sie sich aufhält …«
»Sie hängt an der Salzach ab. Mit den sogenannten ›Emos‹.«
»Nie gehört.«
»›Emo‹ für ›emotional‹«, kläre ich den Mann auf. »Diese Kinder fühlen sich missverstanden, sie ritzen sich die Arme und Beine auf, kiffen, trinken Bier, schwänzen die Schule. Im Grunde sehnen sie sich nach Aufmerksamkeit …«
»Die sie ja offensichtlich auch bekommen.« Herr Rottmeier macht ein völlig undurchsichtiges Gesicht und kratzt sich am Kopf.
»Ja, aber nicht von ihren Eltern und Familien! Die Öffentlichkeit regt sich über sie auf, sie blockieren die Promenade, belästigen Leute, werfen Knallkörper vor harmlose Spaziergänger, betteln um Geld für ihre streunenden Hunde …«
»Ich versuche, so gut es geht, mich in meiner wenigen Freizeit um die Problemkinder in meiner Klasse zu kümmern.«
»Das sollten Sie allerdings, als Klassenlehrer! Und bitte, kümmern Sie sich ganz besonders um Vicki! Sie schreit ja geradezu nach Aufmerksamkeit und Liebe«, ereifere ich mich. »Vielleicht können Sie bei dem Mädchen etwas erreichen!«
Herr Rottmeier zuckt zurück. »Frau Hempel, ich behandle alle meine Schüler und Schülerinnen gleich. Wenn einer Sorgen und Nöte hat, helfe ich ihm oder ihr gerne. Mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen.«
»Aha.« Der Mann spricht in Rätseln. Habe ich ein Kissen im Mund oder was?
»Vicki hat einen Obdachlosen angezeigt«, empöre ich mich. »Wegen Vergewaltigung ! Das kann man doch nicht mit so einer Bemerkung wegwischen!«
»Das müsste ich mit der Mutter vonVicki besprechen«,weist mich Rottweiler plötzlich rüde in die Schranken. »Und nicht mit Ihnen.«
»Wir können doch aber nicht den Kopf in den Sand …«
»Was haben Sie denn überhaupt mit diesem Kerl zu tun?«, herrscht Rottmeier mich auf einmal an. »Ist das ein Freund von Ihnen? Dass Ihre Tochter dauernd bei dem auf der Bank sitzt, weiß ja inzwischen die ganze Schule.«
Sein Blick durchbohrt mich, und ich fühle mich auf einmal ganz klein.
So muss sich meine arme Fanny immer fühlen, wenn er sie mit einer unlösbaren Mathematikaufgabe vor der ganzen Klasse bloßstellt.
»Moment«, sage ich, um Festigkeit in der Stimme bemüht. »Ich bin hier schließlich nicht im Kreuzverhör. Ich möchte, dass Sie sich als Klassenlehrer um Vicki kümmern, wenn es ihre Mutter schon nicht tut.«
»Hört, hört«, spottet der Rottweiler. »Und das aus Ihrem Munde! Soweit ich weiß, haben Sie sich auch nicht gerade aufopfernd um Ihre Tochter Fanny gekümmert.«
»Wie dem auch sei«, lenke ich ein. »Sie sollten wissen, dass Vicki durch ihre unhaltbare Anschuldigung einen unschuldigen Menschen in den Knast gebracht hat.«
»Oh«, sagt Herr Rottmeier, und sein Gesicht nimmt plötzlich einen ganz anderen Ausdruck an. »Das war mir nicht bekannt.«
»Jetzt wissen Sie es«, sage ich knapp.
Die Augen des Lehrers werden zu Schlitzen. »Im Knast?! Sind Sie sicher?«
Jetzt kommt Leben in den Meister! Endlich!
Ich beuge mich aufgeregt vor: »Ich habe ihn besucht.«
»Sie haben den Penner besucht?! Wann?!«
»Gestern. Es geht ihm, gelinde gesagt, schlecht.« So, jetzt habe ich den Lehrer wohl endlich beeindruckt.
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