Herzgesteuert: Roman (German Edition)
dass die Bahn streikt.«
»Willst du was auf die Fresse?«
»Ähm, nein, danke.«
»Willst du mich verarschen oder was?«
»Nein! Ich meine, ich habe Sie verwechselt.«
»Verwechselt? Isch bin unverwechselbar.«
»Nein, nein, ist schon gut!« Dabei umkrampfen meine Finger den Geldkoffer, dass die Knöchel weiß hervorstehen.
Gehetzt stöckele ich auf meinen Pumps über den Bahnsteig davon.
»Was hasse da inne Tasche?«, schreit er mir hinterher.
O Gott. Das darf jetzt nicht passieren! Bitte lass den Kerl zu besoffen sein, um zu erahnen, was da drin sein könnte! Ich schaue mich verstohlen um, während ich meine klappernden Schritte beschleunige.
»Bleib stehen, du verfickte Schlampe!« O nein. Keinesfalls. Das halte ich für keine gute Idee.
Der Lümmel steht auf und taumelt leicht. Eine Bierdose rollt auf die Schienen.
Er stößt ein paar weitere ordinäre Ausdrücke aus, die nie im Leben über Georgs Lippen kommen würden, und ich fange an zu rennen.
O Gott. Bitte. Lass mich jetzt nicht im Stich!
Da höre ich, wie er mir folgt. O Scheiße!! Er läuft mir nach! Was soll ich tun?
»Gib mir die Tasche, du Hure!«
Nein, das ist nicht nett. Das ist einfach nicht nett.
In dem Ton kommen wir nicht ins Gespräch. Ich entwickle ungeahnte Kräfte und renne um mein Leben, als ich auch schon spüre, wie er von hinten an meiner Tasche reißt. »Lass sie los, du Scheißhure! Du sollst mir die Tasche geben!«
»Verpiss dich!«, schreie ich, und mit plötzlicher Wut hole ich ganz weit aus und schleudere ihm die spitze Kante des Koffers mit voller Kraft ins Gesicht. Sie trifft ihn an der Stirn, und zu meinem grenzenlosen Entsetzen läuft ihm ein dicker Blutfaden über die Schläfe.
Wie ich zuschlagen kann! Das hätte ich nie von mir gedacht.
Der Kerl brüllt vor Schmerz und hält sich die Hände vor das Gesicht. Jammernd taumelt er zurück. Er ist offensichtlich wirklich stark alkoholisiert. Diese Schrecksekunde nutze ich, um mit stechenden Lungen davonzuhetzen.
Doch jetzt wird der Stier in ihm wach.
»Na warte, du Miststück!« Ich höre ihn schon wieder dicht hinter mir. »Ich bring dich um!«
»Hilfe«, schreie ich und knicke immer wieder mit meinen hochhackigen Schuhen um. »Ist hier denn niemand?!«
»Vorsicht, auf Gleis fünf fährt ein Schnellzug durch«, höre ich die Lautsprecherstimme, »bitte zurücktreten!«
In Panik stolpere ich weiter, höre schon mit warnendem Pfeifen den Zug nahen.
Rennt er noch hinter mir her? Wenn der Kerl mich jetzt von hinten zu fassen bekommt und auf die Gleise schubst … Wie von der Tarantel gestochen rase ich über den verlassenen Bahnsteig auf die Unterführung zu. In dem Moment sehe ich zwei Reisende mit Gepäck die Treppe heraufkommen. Gott sei Dank. Ich bin gerettet. Die Bahn streikt nicht mehr.
»Verpiss dich doch, du Schlampe!«, brüllt der Finsterling hinter mir her, und dann fliegt eine Bierdose ganz knapp an meinem rechten Ohr vorbei. Ich spüre den Luftzug und höre, wie die Bierdose auf das Bahngleis donnert, bis sie mit einem Knall zerbirst, als der Schnellzug auch schon darüberrast. Mit ohrenbetäubendem Lärm gleitet die stählerne Schlange an mir vorbei, das Bier spritzt mir an die Beine und den Kostümrock.
Warum tue ich mir das alles an? Was will ich mir denn beweisen?
Die beiden Reisenden gehen mit leicht angewidertem Gesicht an mir vorbei. Aha. Sie halten mich wahrscheinlich für eine Pennerin. So wie ich nach Bier stinke, kann man ihnen das nicht verübeln.
»Vorsicht auf Gleis vier«, verkündet die Lautsprecherstimme knarrend. »Der verspätete Zug nach Salzburg fährt nun ein.«
Die beiden Reisenden machen sich einsteigebereit. Sie werfen mir abfällige Blicke zu, und wenn ich ihnen in die Augen sehe, schauen sie schnell weg. Abschaum. Ich bin für sie Abschaum!
So muss sich Georg fühlen, wenn er auf seiner Bank unter der Trauerweide sitzt. Jeder noch so dämliche Passant darf ihm solche Blicke entgegenschleudern. Ist er immun dagegen? Besitzt er deshalb diese unglaubliche Gelassenheit? Erreicht ihn das alles gar nicht mehr?
Auf einmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als Georg noch einmal zu sehen. Ich möchte ihm so viele Fragen stellen und möchte mich für meine Borniertheit entschuldigen. Gleichzeitig habe ich eine Heidenwut auf ihn.
Der Zug kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, und die Reisenden steigen ein. Der Mann dreht sich fragend nach mir um: »Wollen Sie nicht mit?«
»Nein«, sage ich schwach. Ich presse den
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