Herzhämmern
Tochtergeneration wieder auf: ein weißes Löwenmäulchen auf drei rote. Wenn das weiße Merkmal, sagen wir: die Angst meines Urgroßvaters wäre, hätte ausgerechnet ich sie voll abgekriegt …
Mein einziger Trost ist, dass ich kein Löwenmäulchen bin und vielleicht - vielleicht! - etwas gegen dieses bescheuerte Merkmal tun kann. Morgen um diese Zeit werde ich es wissen, ich werde in der Höhle gewesen sein. Oder möglicherweise noch drinstecken?
Schon setzt das bekannte Zittern ein. Ein beklemmendes inneres Flattern, das in die Beine krabbelt und meine Knie zusammenschlagen lässt. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Ich wünsche mir sehnlichst, die Mädchen hätten das Nachtlicht brennen lassen, denn jetzt ist es im Schlafraum so dunkel wie in einer Höhle. Auch das Hoflicht vor dem Fenster ist ausgegangen. Hastig winde ich mich aus dem engen Schlafsack und taste mich zur Tür - immerhin gelingt es mir, kein Geräusch zu machen. Im Waschraum atme ich auf. Ich stützte mich auf das kalte Becken und starre mich im Spiegel an; meine Sommersprossen setzen sich deutlich von meiner kalkweißen Haut ab, man könnte sie zählen, wenn sie zählbar wären. Es ist genau die Haut meiner Mutter. Als ich klein war, kam mir jede andere Haut langweilig vor; ich habe die draufgängerische Lebendigkeit meiner Mutter in ihrem Gesicht, in den unzähligen lustigen Punkten wiedergefunden. Einmal fuhr sie Kettenkarussell, ihr hübsches, gesprenkeltes Gesicht mal zu mir gekehrt, mal abgewandt, sie kreiselte, sie lachte, es war ein lustiges, lockendes Lachen. Und dann erinnere ich mich an ihre ausgebreiteten Arme und ihren Versuch, mich in das Karussell zu setzen.
Nur Menschen wie meine Mutter haben eine solche Haut, davon war ich überzeugt. Es war eine große Überraschung, und ich war schon in der Schule, als ich es entdeckte: Ich gleiche meiner Mutter ganz und gar. Den Verwandten meines Vaters fiel es auch auf, sie fanden es unheimlich wichtig und erwähnten auf einmal bei jeder Gelegenheit, dass ich meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Als hätte damit mein Vater keinen Anteil mehr an meiner Zeugung.
Aber über die vererbte Ähnlichkeit hinaus haben wir nichts gemeinsam. Meine Mutter trägt ihr rotes Haar kurz und jeden Tag ein wenig anders, je nach Laune. Sie mag Stirnbänder und verrückte Ohrstecker und freche Klamotten, und es stört sie nicht, wenn man sich nach ihr umdreht. Ich dagegen habe immer dieselbe Frisur, ich flechte meine Haare höchstens mal zum Zopf und am liebsten trage ich Jeans und die alten Pullover meines Vaters.
Ich raffe jetzt meine Haare vor dem Spiegel und halte sie locker im Nacken fest. Dann lege ich den Kopf schief und grinse, wie meine Mutter grinst. Sie schaut mich für eine Sekunde aus dem Spiegel an, und ich will ihr gerade das morgige Abenteuer unterschieben, da ist der Augenblick schon vorbei. Ich bin das und niemand sonst, die da im Waschraum steht, sich anstarrt und unter den Sommersprossen käsebleich ist.
Wenn ich lange genug hier stehe, kann ich vielleicht noch krank werden, vom gekippten Fenster her kommt ein kalter Zug. Die Sonne ist gegen siebzehn Uhr untergegangen, das war vor neun Stunden, und die Oktobernacht wird immer kälter. Ich horche in mich hinein, ob sich nicht schon ein wenig Fieber ankündigt. Ich sehe mich glühend im Schlafsack liegen, ich wälze mich in wilden Fantasien von einer Seite auf die andere. Man verständigt meine Mutter. Sie sagt sofort die Radtour ab, die ihr Klub für Sonntag geplant hat, sie setzt sich ins Auto und holt mich heim. Bis ich wieder gesund bin, sind die Erdferkel längst vergessen.
Aber will ich die Erdferkel denn vergessen? Nach dem kameradschaftlichen Handschlag? Habe ich mich nicht darum gerissen, zu ihnen zu gehören, und ist es mir nicht bereits halbwegs geglückt? Will ich das wirklich sausen lassen? Und die großen Töne von wegen einmal meine Angst besiegen ? Hätten mein Vater oder meine Mutter sich absichtlich in einem lächerlichen Waschhaus erkältet, um einem Abenteuer aus dem Weg zu gehen?
Die Haut unter meinen Sommersprossen rötet sich ein wenig. Schnell verlasse ich den Waschraum und gehe ins Zimmer zurück. Ich knipse die kleine Lampe neben der Tür an, und als sich niemand rührt, lasse ich sie brennen und krieche in meinen Schlafsack.
5
E in klirrendes Geräusch am Fenster weckt mich. Ich fahre hoch - Bonni! Die Nachtlampe ist im grauen Morgenlicht nur noch eine gelbe Birne. Meine Armbanduhr zeigt
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