Herzhämmern
ist. Ich habe links vier Dioptrien und rechts nur eins Komma fünf. Der Augenarzt hat gesagt …«, und so weiter. Der Augenarzt hat tatsächlich gesagt, unterschiedliche Augen können sich möglicherweise ein wenig schwerer tun mit dem räumlichen Sehen, aber ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen, mein Gehirn würde schon für das richtige Bild sorgen. Und das tut es auch. Ich habe kein Problem mit dem räumlichen Sehen. Aber es ist manchmal ganz praktisch, medizinische Details zu kennen.
Ich überlege gerade, ob es nicht besser wäre, Shelley, Ecke und Bonni über die Schwierigkeit des räumlichen Sehens bei unterschiedlichen Dioptrien aufzuklären, da sehe ich, dass ich ein wenig warten muss, wenn ich mit meiner Rede alle drei erreichen will. Denn während ich in den Anblick meiner Prachtesche versunken war, ist Ecke vom Erdboden verschwunden. Wie er gestern als Erster hervorgetaucht ist, ist er nun als Erster weg.
Shelley zuckt die Achseln. »Dem passiert schon nichts. Das ist seine Art, der spinnt halt.« Dann zeigt er mir das Loch, das ich bisher nicht gesehen habe. Es ist ein flacher Spalt am Fuß der Felswand und man kann glatt daran vorübergehen.
Ungläubig blicke ich vom Spalt zu Shelley und Bonni. Nichts auf der Welt kriegt mich da rein. Ganz abgesehen davon, dass ich vorher zur Maus mutieren müsste. Weiß der Himmel, wo Ecke abgeblieben ist. Dahinein kann er nicht verschwunden sein.
Vom Erdmittelpunkt her kommt eine ferne, hohle, unmenschliche Stimme. Sie nähert sich bedrohlich. Und auf einmal erscheint Eckes unbedeckter Kopf im Spalt. »Wo bleibt ihr Lahmärsche?«
Jetzt ist die Gelegenheit, auf meinen Defekt hinzuweisen, alle sind da und keiner wird bestreiten, dass räumliches Sehen unerlässlich ist für eine Höhlenerforschung. Ich befeuchte die trockenen Lippen. Ein Krächzlaut kommt aus meinem Hals, den keiner hört.
Denn Bonni wirft sich mit Kriegsgeheul auf den Boden und schiebt die Füße ins Loch. Seine Lampe hat er abgelegt. »Hau ab, Alter«, brüllt er nach hinten, »sonst kriegst du meine Treterchen zu schmecken!«
Shelley kniet nieder und nimmt die Lampe, um sie ihm nachzureichen. Es dauert, weil Bonni sich verrenkt und verwindet und vermutlich mit den Beinen irgendwo im Nichts zappelt. Das größte Hindernis sind die dicken Brusttaschen.
Shelley schaut über die Schulter zu mir hoch. Er muss den Kopf weit in den Nacken legen, denn der Helm nimmt ihm die Sicht. Er lächelt aufmunternd. »Du bist die Nächste, Martina. Ich mache den Schluss.«
6
W ie unter Zwang knie ich mich auf den Boden. Es ist nicht allein Shelleys liebes Lächeln, sondern auch Bonnis grünes Gesicht. Grün bis in die Nasenspitze. Und etwas in seinen Augen, das ich nicht ergründen kann. Dann ragt nur noch die Hand heraus, die mit mir den Becher geteilt hat, und fummelt nach der Lampe.
»Die Beine zuerst, das geht leichter«, rät mir Shelley und ruft dann ins Loch hinein: »Bonni, bleib hinten dran, nimm Martinas Füße!«
Ich fasse es nicht, aber ich tu’s. Liege auf dem Bauch und winde mich rückwärts in einen Spalt hinein, den nur eine Maus passieren kann. Meine Füße stochern nach Halt und fühlen sich plötzlich ergriffen. Ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken.
»Geht’s?«, fragt Shelley. »Hab keine Angst. Das ist ein Panikschlupf, danach wird’s leichter.«
»Ah ja«, ringe ich mir ab. »Wusste nur bisher nicht, dass ich die Maße einer Maus habe.«
Shelley lacht.
»Was wackelst du denn so?«, kommt es hohl aus dem Erdinnern.
Ich wackle nicht, ich zittere. Wie die Blätter an meinem Baum, wenn der Wind hineinfährt. Meine Esche, der ich einen verzweifelten Abschiedsblick aus der Mausperspektive zuwerfe. Der Helm donnert gegen das harte Gestein, als ich weiterrutsche. Es kommt überraschend, es dröhnt, aber es tut nicht weh.
»Daran muss man sich erst gewöhnen«, klärt mich Shelley auf. »Die erste halbe Stunde brummt man ständig irgendwohin.«
Ein Dankgebet für den Helm. Ohne ihn hätte ich bereits eine klaffende Schädelwunde. Der Mageninhalt steht mir im Hals. »Gleich bin ich weg«, presse ich hervor. Die geheime Botschaft dahinter lautet: Lass mich bitte, bitte nicht abtauchen, halt mich fest, zieh mich raus, tu was!
»Wär’s dir mit Seil lieber gewesen?« Shelley hat ein zusammengerolltes Seil über der Schulter mitbefördert, das jetzt neben ihm im Gras liegt. Die Botschaft ist angekommen, mit dem Seil zieht er mich raus!
Aber das ist ein Irrtum. »Jetzt
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