Herzschlag der Nacht
eine Explosion, und er wurde gleichzeitig in die Seite und ins rechte Bein getroffen.
Die umgebaute Kaserne war voller Verwundeter, Ratten und Ungeziefer. Als einzige Wasserquelle diente ein Brunnen, vor dem die Schwestern anstanden, um etwas von dem verseuchten Rinnsal in ihren Schalen aufzufangen. Da das Wasser nicht zum Trinken geeignet war, benutzten sie es zum Einweichen und Waschen der Verbände.
Christopher hatte die Schwestern bestochen, ihm eine Tasse starken Schnaps zu bringen. Den Alkohol goss er auf seine Wunden, in der Hoffnung, dass er ein Eitern verhinderte. Das erste Mal hatte es so entsetzlich gebrannt, dass er ohnmächtig vom Bett auf den Fußboden kippte, was die anderen Patienten in dem Saal ungemein erheiterte. Christopher hatte ihren Spott gutmütig hingenommen, wusste er doch, wie dringend ein wenig Aufmunterung an dem düsteren Ort vonnöten war.
Die Granatsplitter aus seiner Seite und dem Bein waren entfernt worden, aber die Wunden heilten nicht richtig. Heute Morgen hatte er gesehen, dass die Haut um die Schnitte herum rot und gestrafft war, und der Gedanke, hier ernstlich krank zu werden, ängstigte ihn.
Gestern hatten die Schwestern trotz des wütenden Protests der Soldaten in der langen Bettenreihe angefangen, einen Mann in seine blutige Decke einzunähen, um ihn zur örtlichen Grabstätte zu bringen, bevor er tatsächlich gestorben war. Auf die erbosten Schreie der anderen hin hatten die Schwestern geantwortet, dass der Mann nichts mehr fühlte, nur noch Minuten zu leben hätte und sein Bett dringend gebraucht würde. Was zweifellos stimmte. Dennoch hatte Christopher, der als einer von wenigen imstande war, sein Bett zu verlassen, sich ihnen in den Weg gestellt und gesagt, er würde bei dem Mann auf dem Fußboden ausharren, bis er seinen letzten Atemzug getan hatte. Eine Stunde lang hockte er auf dem harten Stein, scheuchte Insekten weg und hielt den Kopf des Mannes auf seinem verwundeten Bein.
»Meinen Sie, damit haben Sie ihm was Gutes getan?«, fragte eine der Schwestern abfällig, als der arme Kerl endlich dahingeschieden war und Christopher ihnen gestattete, ihn wegzubringen.
»Ihm nicht«, antwortete Christopher leise, »aber vielleicht ihnen.« Dabei nickte er zu der Reihe schäbiger Feldbetten, auf denen die Patienten lagen und zu ihnen sahen. Jene Männer mussten die Gewissheit haben, dass man sie mit einem Funken Menschlichkeit behandelte, wenn ihre Zeit gekommen war.
Der junge Soldat im Bett neben Christopher konnte so gut wie gar nichts mehr selbst machen, weil er einen Arm und die Hand des anderen verloren hatte. Da keine der Schwestern abkömmlich war, hatte Christopher es übernommen, ihn zu füttern. Er kniete sich mühsam neben die Pritsche, hob den Kopf des Mannes und half ihm, die Brühe zu trinken.
»Captain Phelan«, erklang die scharfe Stimme einer der Barmherzigen Schwestern. Mit ihrem herrischen Auftreten und der strengen Miene war die Nonne so furchteinflößend, dass einige Soldaten schon vorgeschlagen hatten – natürlich nur untereinander und ohne dass sie es hörte –, sie solle doch auf die Russen gehetzt werden, dann wäre der Krieg binnen Stunden vorbei.
Sie hob die drahtigen grauen Brauen, als sie Christopher neben dem Bett des anderen Patienten sah. »Machen Sie schon wieder Ärger? Gehen Sie zurück in Ihr Bett, Captain. Und bleiben Sie dort, es sei denn, Sie wollen so krank werden, dass wir Sie auf unbestimmte Zeit hierbehalten müssen.«
Folgsam humpelte Christopher zu seiner Pritsche.
Sie kam zu ihm und legte eine kühle Hand auf seine Stirn.
»Fieber«, hörte er sie murmeln. »Rühren Sie sich nicht aus dem Bett, sonst lasse ich Sie festbinden, Captain.« Ihre Hand verschwand wieder, und etwas wurde ihm auf die Brust gelegt.
Christopher öffnete die Augen einen Spalt weit und entdeckte, dass sie ihm einen Packen Briefe gebracht hatte.
Prudence.
Er griff nach dem Päckchen und zurrte ungeduldig an dem Siegel.
Es waren zwei Briefe in dem Kuvert.
Mit dem Öffnen wartete er allerdings, bis die Schwester gegangen war, erst dann riss er den Brief von Prudence auf. Allein beim Anblick ihrer Handschrift war er von Gefühlen überwältigt. Er wollte sie, brauchte sie mit einer Intensität, die er nicht einzudämmen wusste.
Auf wundersame Weise hatte er sich hier, am anderen Ende der Welt, in sie verliebt. Ihm war es gleich, dass er sie kaum kannte, denn das Spärliche, das er von ihr wusste, liebte er.
Christopher las die wenigen
Weitere Kostenlose Bücher