Herzschlag der Nacht
Zeilen.
Vor seinen Augen schienen die Wörter ihren Platz zu wechseln wie in einem Alphabet-Spiel für Kinder, und es dauerte eine Weile, bis er ihnen ein Sinn abringen konnte.
»… bin ich doch nicht die, für die Sie mich halten … Bitte kommen Sie heim und suchen Sie nach mir.«
Lautlos formten seine Lippen ihren Namen, und er drückte den Brief an sein wild pochendes Herz.
Was war mit Prudence geschehen?
Die eigenartige, überstürzt wirkende Nachricht löste einen Tumult in ihm aus.
»… nicht die, für die Sie mich halten«, wiederholte er tonlos.
Nein, natürlich war sie nicht die. Dasselbe galt für ihn. Er war nicht dieses gebrochene, fiebrige Wesen auf einem Lazarettbett, und sie war nicht die flatterhafte, oberflächliche Frau, für die jeder sie hielt. Durch ihre Briefe hatten sie beide so viel mehr in dem anderen entdeckt.
»Bitte kommen Sie heim und suchen Sie nach mir.«
Seine Hände fühlten sich geschwollen und steif an, als er den anderen Brief entfaltete, der von Audrey kam. Das Fieber machte ihn ungeschickt. Noch dazu hob ein unangenehmes Pochen in seinem Kopf an, sodass er das Lesen immer wieder unterbrechen musste.
Lieber Christopher,
es ist mir unmöglich, Dir dies auf sanfte Weise mitzuteilen. Johns Zustand hat sich verschlechtert. Die Aussicht auf den Tod nimmt er mit derselben Gelassenheit und Vornehmheit, die er im Leben bewies. Bis dieser Brief Dich erreicht, wird John zweifellos nicht mehr unter uns weilen …
Den Rest konnte Christopher nicht mehr lesen. Dafür wäre später noch Zeit, wenn auch die Zeit für Trauer käme.
John sollte nicht krank sein. Man erwartete von ihm, wohlbehalten in Stony Cross zu sein und mit Audrey Nachkommen für die Familie zu zeugen. Er sollte dort sein, wenn Christopher heimkehrte.
Christopher gelang es, sich auf die Seite zu drehen und die Decke weit genug hochzuziehen, dass sie ihn vor den anderen abschirmte. Um ihn zerstreuten die Soldaten sich mit Reden und, sofern möglich, Kartenspielen. Sie waren so freundlich, ihn absichtlich nicht zu beachten und ihm auf diese Art ein wenig Privatsphäre zu erlauben.
Kapitel 6
I n den zehn Monaten nach dem letzten Brief von Beatrix an ihn hatte es keine Korrespondenz mehr von Christopher Phelan gegeben. Er schrieb weiterhin an Audrey, doch in ihrem Kummer über Johns Tod fiel es ihr schwer, mit jemandem zu sprechen, sogar mit Beatrix.
Christopher war verwundet worden, hatte Audrey erzählt, im Lazarett jedoch wieder genesen und zurück in die Schlacht gezogen. Da sie immerfort alle Zeitungsmeldungen nach Erwähnungen von ihm durchsah, fand Beatrix zahllose Berichte über seine Tapferkeit. Während der mehrmonatigen Belagerung von Sewastopol war er zu einem der höchstdekorierten Soldaten der Artillerie aufgestiegen. Christopher wurde nicht nur mit dem Bath-Orden und Tapferkeitsmedaillen für Alma, Inkerman, Balaklawa und Sewastopol ausgezeichnet; überdies schlugen ihn die Franzosen zum Ritter der Ehrenlegion, und von den Türken erhielt er die Medjidie .
Zu Beatrix’ Bedauern war ihre Freundschaft mit Prudence merklich abgekühlt, seit sie ihr gesagt hatte, dass sie nicht noch einmal an Christopher schreiben könnte.
»Aber warum denn nicht?«, hatte Prudence gefragt. »Ich dachte, du genießt das Korrespondieren mit ihm.«
»Nicht mehr«, hatte Beatrix matt geantwortet.
Ihre Freundin beäugte sie misstrauisch. »Ich kann nicht glauben, dass du ihn einfach so fallen lässt. Was wird er denken, wenn keine Briefe mehr kommen?«
Bei der Frage krampfte sich Beatrix’ Bauch vor Schuldgefühlen und Sehnsucht zusammen. Sie traute sich kaum zu, etwas zu sagen. »Ich kann ihm nicht weiterhin schreiben, ohne die Wahrheit zu sagen. Es ist zu persönlich geworden. Ich … Es sind Gefühle im Spiel. Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche?«
»Ich verstehe bloß, dass du einzig an dich selbst denkst. Du hast dafür gesorgt, dass ich ihm keinen Brief schreiben kann, weil er die andere Handschrift erkennen würde. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, ihn für mich an der Angel zu halten, bis er wieder hier ist.«
»Warum willst du das?« Beatrix runzelte die Stirn. Ihr behagte die Wendung »an der Angel halten« nicht – als wäre Christopher ein toter Fisch. Einer von vielen. »Du hast viele Verehrer.«
»Ja, aber Captain Phelan ist zu einem Kriegshelden geworden. Nach seiner Rückkehr könnte er sogar zum Dinner bei der Königin geladen werden, und nachdem sein Bruder gestorben ist, wird er
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