Herzschlagzeilen
ziemlich grau werden, stehen in alle Richtungen ab, und unter seinen Augen liegen tiefe Schatten. Bevor Papa wieder anfängt, seine Erlebnisse der letzten Nacht bei mir abzuladen, erzähle ich ihm schnell, warum ich wieder zu Hause bin, und zeige ihm den Zettel für Praktikanten. Er nickt nur und wünscht mir weiter viel Spaß für den Rest des Tages, dann gießt er sich einen Kaffee ein und macht Anstalten, die Küche wieder zu verlassen.
»Ach, Isa?« In der offenen Tür dreht er sich noch einmal um. »Hast du Mama heute schon gesehen?«
Erstaunt schaue ich ihn an.
»Ja, sicher. Heute Morgen. Warum fragst du?«
»Weißt du zufällig, wo sie hingegangen ist? Hat sie dir irgendetwas gesagt?«
»Wo soll sie denn hingegangen sein? In den Buchladen, denke ich.« Ich versuche, so normal wie möglich zu klingen und das ungute Gefühl, das in mir aufsteigen will, zu verdrängen.
»Ja natürlich.« Papa schüttelt den Kopf, dann verlässt er endgültig die Küche. Was ist hier eigentlich los? Wieso benehmen sich meine Eltern plötzlich so merkwürdig? Als ob ich nicht genug eigene Probleme hätte, denke ich missmutig, bevor ich meine Tasche schnappe und mich auf den Weg zum Goldenen Schwan mache.
Als ich dort ankomme, ist die Versammlung der Bürgerinitiative bereits in vollem Gange. Etwa fünfzehn Männer und Frauen sitzen um einen großen runden Tisch und diskutieren ihre nächsten Aktionen. Von einem Redakteur des
Stadtanzeigers
ist mal wieder weit und breit nichts zu sehen. Dann wird wohl auch dieser Artikel an mir hängen bleiben. Ich krame nach meinem Notizbuch.
»Was machen Sie da?« Eine ältere Frau mit Latzhose und einem weißen Haarknoten betrachtet mich argwöhnisch. »Sind Sie von der Stadt?«
»Ja, äh, nein, ich meine, ich bin vom
Stadtanzeiger
«, stottere ich. »Von der Zeitung.«
»Sie kommen von der Presse?« Ihre Miene hellt sich auf. »Na, das ist doch mal was. He, Leute!« Sie packt mich am Arm und zieht mich neben sich an den Tisch. »Guckt mal, die Zeitung hat jemanden vorbeigeschickt. Endlich finden wir Gehör in der Öffentlichkeit.«
Allgemeines Tischeklopfen mit den Fingerknöcheln und beifälliges Gemurmel ringsum.
»Ich bin übrigens Dori.« Die Umweltschützerin drückt mich auf einen Stuhl. »Dann passen Sie mal gut auf und schreiben Sie alles mit. Die Öffentlichkeit muss erfahren, was für ein Spiel hier auf dem Rücken der Natur ausgetragen wird.«
Ich nicke und krame nach meinem Kugelschreiber. So gut es geht, versuche ich, alles mitzuschreiben, was ich höre. Je mehr Infos ich sammele, desto leichter wird mir mein Bericht hinterher fallen. Hoffe ich jedenfalls. Soweit ich die aufgebrachte Diskussion verstehe, geht es um ein paar alte Pappeln in der Pappelallee. Dort soll ein riesiger neuer Supermarkt errichtet werden und dafür müssen die Bäume weichen. Das aber wollen die Mitglieder der Bürgerinitiative verhindern.
»Wir sollten Bettlaken besprühen«, ruft ein dünnes Kerlchen, dessen Brille ihm eindeutig zwei Nummern zu groß ist. Ob der weiß, dass es fast nur noch Spannbetttücher gibt?
»Bettlaken bringen gar nichts«, entgegnet das blasse Mädchen von gegenüber. Ihr Gesicht ist so weiß, dass sie gut selbst als Laken gehen könnte. »Hat bei der alten Kastanie in der Uhlandstraße auch nichts gebracht. Die wurde trotzdem umgehauen.«
Kollektives Aufstöhnen am ganzen Tisch. Fast erwarte ich eine Schweigeminute für die Kastanie. Und schäme mich gleichzeitig dafür, dass ich von diesem Baum noch nie etwas gehört habe.
»Notfalls kette ich mich an einen Stamm«, ereifert sich die weißhaarige Latzhose neben mir. Meine Güte. Wo bin ich denn hier hingeraten? Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir:
Rentnerin rettet Pappel unter Einsatz ihres Lebens!
Es folgt eine längere Diskussion über die notwendige Kettenstärke und verschiedene Baumarktpreise.
Ich schreibe und schreibe, bis Dori plötzlich in die Hände klatscht und ruft: »So, Leute, genug für heute. Geht nach Hause und malt eure Plakate. Wir sehen uns dann am Sonntag vor den Bäumen. Denkt an die Ketten und an die Kissen für den Sitzstreik.«
Die Umweltaktivisten murmeln irgendetwas Zustimmendes und tatsächlich, die Versammlung löst sich auf. Als ich aufstehe und mich im Raum umsehe, fällt mein Blick auf einen ziemlich korpulenten Mann mittleren Alters, der mit hochgekrempelten Hemdsärmeln auf einem Hocker an der Bar sitzt und ein großes Glas Bier in der Hand hält. Den hatte ich noch gar nicht
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