Herzstoss
sie. »Ich meine, es war doch nicht alles Elend und Trübsal. Es gab auch Momente, in denen Devon glücklich war. Oder nicht?«
Judiths Stimme wurde sofort sanfter. »Natürlich.«
Marcy dachte an die letzten Wochen vor Devons Verschwinden, Wochen, in denen ihre Tochter nicht nur glücklich, sondern fast heiter und gelassen gewesen war, ihr Lächeln echt und fest, ihre Stimme sanft und ruhig. Hatte sie da schon gewusst, dass sie weggehen würde?
Natürlich würde Judith genau wie Peter argumentieren, dass es einen anderen Grund für Devons scheinbare Heiterkeit gegeben hatte, dass Menschen nach der getroffenen Entscheidung, ihr Leben zu beenden, vor der Tat häufig zu großer Ruhe mit sich fanden.
»Schickst du mir jetzt das Geld oder nicht?«, versuchte Marcy den unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Nicht nachdenken, sagte sie sich.
»Wohin soll ich es denn schicken?«, fragte Judith nach einer längeren Pause.
Nun war es an Marcy zu zögern. Sie gab ihren genauen Aufenthaltsort nur ungern preis, doch sie hatte keine andere Wahl. »Schick es an das Hayfield Manor Hotel in Cork.« Marcy nahm den Notizblock neben dem Telefon und las Judith die Adresse des Hotels vor. Sie stellte sich vor, wie ihre Schwester die Angaben oben auf der Seite mit den jüngsten Todesfällen von Toronto notierte.
»Du bist in Cork? Ich dachte, du wärst in Dublin.«
»Schickst du mir das Geld per Overnight-Express?«, fragte – oder besser verlangte – Marcy.
»Ich gehe gleich morgen früh zur Bank. Das Geld müsste dann Dienstag da sein.«
»Danke.«
»Marcy, bitte …«
»Ich muss Schluss machen«, erklärte Marcy ihrer Schwester und legte auf. Dann saß sie etliche Minuten schweigend da und spürte, wie ihr Herz die Sekunden mitzählte wie ein Metronom, bis ihr Kopf leer war. Begleitet von ihrem neuen Mantra – nicht denken, nicht denken, nicht denken – sprang sie schließlich auf, warf einen letzten Blick in den gegen das Fenster prasselnden Regen, schnappte sich ihre neue Jacke und ihre Handtasche und verließ ihr Zimmer.
Sie sah ihn, als sie in die Lobby kam.
Er stand halb versteckt hinter einer Säule in der Nähe der prachtvollen Mahagonitreppe, und sie hätte ihn vielleicht übersehen, wenn sie nicht an der Rezeption gefragt hätte, wo sie einen Regenschirm ausleihen konnte.
»Sie haben doch nicht ernsthaft vor, da rauszugehen?«, fragte man sie am Empfang.
Aber Marcy hatte sich bereits abgewandt und ging auf den Mann hinter der Säule zu. Er hatte ihre Gegenwart offenbar gespürt und versucht, Schritt für Schritt zurückweichend mit der Kulisse zu verschmelzen. Als sie direkt vor ihm stehen blieb, starrte er angestrengt auf den Boden. »Was machst du hier?«, fragte sie ihn ohne jede Vorrede.
Vic Sorvino hob widerwillig den Blick, seine Entdeckung war ihm sichtlich peinlich. »Marcy«, sagte er. Beim Klang ihres Namens aus seinem Mund bekam sie sofort wieder weiche Knie.
Was ist mit mir los, fragte sie sich ungehalten. »Was machst du hier?«, wiederholte sie.
»Das ist eine gute Frage.«
»Und wie lautet die Antwort?«
Vic sah auf einmal so verwirrt aus, wie sie sich fühlte. »Ich weiß es nicht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht.«
So standen sie etliche Sekunden, weil Marcy es nicht schaffte, sich einfach abzuwenden. Dabei war er gar nicht mal so ansehnlich, versuchte sie sich einzureden. Liam war viel attraktiver; verdammt, sogar Peter sah besser aus. Aber irgendwas hatte Vic an sich. Vielleicht war es die Art, wie er sie ansah, die lodernde Eindringlichkeit seiner blauen Augen, die ihren Blick suchten, nicht mehr loslassen wollten und nach dahinter verborgenen Geheimnissen bohrten. Die Androhung echter Nähe. Warum war sie so gemein zu ihm? Weil sie wusste, wenn er sie einmal erkannte – wirklich erkannte – würde die Sehnsucht in seinem Gesicht Widerwillen weichen, und er würde schreiend das Weite suchen.
Wie fast jeder, den sie je geliebt hatte.
Ihre Mutter.
Peter.
Devon.
Schau mich nicht so an, wollte sie ihm sagen. Manche Geheimnisse lässt man lieber unangetastet. »Hast du mich verfolgt?«, fragte sie stattdessen, als ihr wieder einfiel, dass Liam gedacht hatte, Vic in dem Einkaufszentrum gesehen zu haben.
»Nicht direkt.«
»Wie denn? Warst du das gestern in dem Einkaufszentrum?«
»Vielleicht sollten wir uns setzen.« Er führte sie zu einem Sofa, ließ sich neben ihr auf das weiche apricotfarbene Samtpolster sinken und ergriff ihre Hand.
»Warst du es
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