Herzstoss
Nationalsymbol Dublins«, hatte ihr Führer am Vortag geknurrt, als der Bus genauso im Stau gestanden hatte –, beladen mit Tonnen von Sand und Kies. Überall wurde gebaut: Neue Straßen wurden angelegt, alte erweitert; allerorten wurden neue Apartment-Blocks hochgezogen, nicht wenige von ihnen graue Betonkästen ohne Charme und Charakter; monströse Prachtbauten ersetzten die reizenden alten Häuschen. Marcy kurbelte ihr Fenster herunter und schnell wieder hoch, weil sie von dem permanenten Rattern der Presslufthämmer sofort Kopfschmerzen bekam.
Auf der Autobahn wurde es besser, allerdings nur geringfügig. Dichter Verkehr, plötzliche Nebelbänke und heftige Schauer sorgten für alles andere als ideale Straßenverhältnisse. Marcy hatte irgendwo gelesen, dass Irland zum Autofahren als das zweitgefährlichste Land Europas galt, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, wo es noch riskanter war. »Sind wir demnächst da?«, fragte sie den Fahrer nach fast zwei Stunden.
Sind wir bald da , hörte sie Devons Stimme wie ein Echo ihrer eigenen.
»Noch etwa eine Stunde«, antwortete er. »Bei dem kleinsten bisschen Regen verlernen die Leute das Fahren.«
»Aber es regnet doch fast jeden Tag.«
»Da können Sie mal sehen«, erwiderte er, als ob das alles erklären würde. Und vielleicht tat es das ja auch, dachte Marcy, lehnte den Kopf an die Sitzlehne und schloss die Augen. »Wo soll ich Sie absetzen?«, fragte der Fahrer im nächsten Atemzug – oder so kam es Marcy zumindest vor.
»Was?« Marcy riss die Augen auf, sah auf die Uhr und stellte fest, dass eine ganze Stunde verstrichen war. Sie musste eingeschlafen sein. Als sie durch die regenverschlierte Scheibe blickte, sah sie die Stadt Cork.
»In welchem Hotel wohnen Sie?«, fragte der Taxifahrer, während er sein Gefährt durch den dichten Verkehr in die Innenstadt steuerte.
Marcy fiel ein, dass sie vergessen hatte, ein Hotelzimmer zu reservieren. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lynette in stummem Tadel den Kopf schütteln, weil sie es wieder versäumt hatte, voraus zudenken. »Ich habe ehrlich gesagt noch kein Zimmer. Können Sie mir vielleicht etwas Nettes empfehlen?«
»Nun, es wird bestimmt nicht leicht, irgendwas zu finden. Jetzt ist Hochsaison, und in Cork gibt es nicht viele Luxushotels.«
»Es muss auch kein Luxushotel sein. Etwas Einfacheres wäre mir lieber.« Einfach bedeutete, dass sie schwerer zu finden sein würde. Sie wollte nicht, dass Judith oder Peter sie so mühelos aufspüren konnten wie in Dublin. Und sie wollte auch nicht, dass Vic Sorvino auf seinem Schimmel zu ihrer Rettung geritten kam, so verlockend der Gedanke auch sein mochte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie sich für ihre Rettung nicht auf einen Mann verlassen konnte und es auch nicht sollte. Es war unfair ihnen beiden gegenüber.
Marcy öffnete das Seitenfenster nur einen Spalt, um keine Regentropfen hereinzulassen. Dröhnend erschallten die ersten acht Töne von »Danny Boy« auf den Glocken von St. Anne’s Shandon Church, hallten vom Hügel hinab und in der ganzen Stadt wider. Sie lächelte und spürte, wie Erregung ihre Lungen füllte. Es war unwichtig, wo sie wohnte. Solange Devon in der Nähe war, würde sie zur Not auf dem Bürgersteig schlafen.
»Es gibt das Tynan’s auf der Western Road«, sagte der Fahrer. »Das ist eine Bed-&-Breakfast-Pension, die ganz okay sein soll, aber vermutlich ziemlich schlicht.«
»Schlicht ist gut.«
Das Tynan’s war komplett ausgebucht, genau wie ein halbes Dutzend anderer Bed-&-Breakfast-Pensionen, die sich in der Western Road nebeneinanderreihten. Zum Glück hatte es immerhin aufgehört zu regnen, dachte Marcy, als sie ihren Koffer die Stufen zum Doyle Cork Inn hochschleppte, eine der wenigen Pensionen in der Straße, bei denen sie es noch nicht probiert hatte.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ein junger Mann, der neben ihr aufgetaucht war und ihr den Koffer abnehmen wollte. Er war noch keine zwanzig, seine helle Haut von Windpockennarben gezeichnet. Eine besonders Große war wie ein Einschussloch direkt zwischen seinen weit auseinanderliegenden mittelbraunen Augen. Eine widerspenstige Locke seines rotblonden Haars fiel in seine breite Stirn, und in seinem Mund drängte sich ein Haufen schiefer Zähne.
Mit einer vernünftigen Klammer hätte man das richten können , hörte sie Peter sagen.
»Danke, ja.« Marcy folgte dem jungen Mann an die Rezeption in der winzigen Lobby. »Haben Sie ein Zimmer frei?«
»Ich
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