Herzstoss
zu spät fürs Mittag- und noch zu früh zum Abendessen, und sie hatte ohnehin keinen Appetit.
»Du musst etwas essen«, hatte Judith ihr in den Wochen nach Devons Unfall immer wieder erklärt. Und dann noch einmal, als Peter gegangen war. »Du musst bei Kräften bleiben«, hatte sie beharrt und einen Löffel mit Erdnussbutter vor Marcys fest zusammengepresste Lippen gehalten.
Marcy schloss die Augen, um die zahllosen unangenehmen Erinnerungen zu verdrängen, die auf sie einstürzten. »Das reicht«, sagte sie laut, doch ihre Stimme wurde vom Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens übertönt. Ein Rolls oder ein Bentley, dachte sie, und als sie die Augen öffnete, eine schwarze Limousine um die nächste Kurve verschwinden sah und instinktiv wusste, dass sie den O’Connors gehörte. Sie rannte den Hügel wieder hinauf und beobachtete atemlos, wie der Wagen in der Auffahrt des gelben Backsteinhauses hielt.
Aus etwa fünfzig Metern Entfernung sah sie, wie auf der Beifahrerseite eine Frau mit mehreren Einkaufstüten ausstieg. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um und rief dem Fahrer, der den Wagen in die Garage chauffierte, zu: »Vergiss die Lebensmittel im Kofferraum nicht.«
Die Frau war jung, Anfang dreißig und sehr hübsch mit schulterlangen, rotbraunen Haaren und wohlgeformten, wenngleich stämmigen Beinen. Sie trug einen dunkelblauen Rock und eine weite Strickjacke über einer konservativen, bunt gemusterten Bluse. Dem locker vertrauten Umgang mit ihrem Begleiter nach zu urteilen, war das Mrs. O’Connor persönlich und nicht ihr Kindermädchen.
Das war ihre Chance, dachte Marcy, als die Frau in ihrer Designerhandtasche nach dem Schlüssel suchte. Marcy befahl sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, blieb jedoch abrupt stehen, als kurz darauf der Mann, beladen mit Lebensmitteln, aus der Garage kam. Sie erkannte, dass er mindestens zehn Jahre älter war als die Frau und selbst im Kampf mit den überquellenden Tüten ziemlich vornehm wirkte.
»Schaffst du es?«, fragte die Frau von der Tür.
»Aus dem Weg, Weib«, erwiderte er lachend. Sekunden später waren beide immer noch lachend im Haus verschwunden und hatten die Tür hinter sich geschlossen.
»Mr. and Mrs. O’Connor, nehme ich an«, meinte Marcy zu sich selbst und beneidete die beiden um den lockeren Umgang miteinander. Wann hatten Peter und sie zum letzten Mal gemeinsam so gelacht. Über irgendetwas. Vielleicht am Anfang, dachte sie. Vor Devon. »Hör auf damit. Du bist ungerecht.« So verlockend der Gedanke auch war, konnte sie Devon nicht die Schuld für all ihre Eheprobleme geben.
Judiths unerwünschter und ungebetener Rat hallte in ihrem Kopf wider. »Bist du sicher, dass du das willst?«, hatte sie gefragt, als Marcy ihr erzählt hatte, dass sie schwanger war. »Du weißt, du wirst nie wieder einen ruhigen Moment haben. Du wirst ständig warten und aufpassen …«
»Halt die Klappe, Judith«, hatte Marcy gesagt.
»Halt die Klappe, Judith«, sagte sie jetzt wieder, rieb sich die Stirn und fragte sich, wo Shannon war. Wahrscheinlich bei den Kindern der O’Connors. Vielleicht war sie mit ihnen spazieren gegangen oder auf einem Spielplatz in einem Park in der Nähe. Oder das Kindermädchen hatte heute frei, und die Kinder verbrachten den Nachmittag bei ihren Großeltern.
So viele Vielleichts.
Marcy entschied, den O’Connors ein paar Minuten Zeit zu lassen, ihre Lebensmittel zu verstauen, bevor sie sie überfiel. »Du kannst das«, ermahnte sie sich, nahm Devons Bild aus ihrer Handtasche und fragte sich, wovor sie solche Angst hatte? Dass die O’Connors das Mädchen auf dem Foto nicht erkannten?
Oder dass sie es erkannten?
Im nächsten Moment ertönte das laute Geschrei eines Babys, als eine junge Frau mit einen Kinderwagen um eine Biegung am Ende der Straße kam.
Marcy ertappte sich dabei, wie sie die Luft anhielt, als das Mädchen näher kam. Es sah genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte, schlank, mit heller Haut und langen rotblonden Haaren, auf eine unauffällige Art hübsch. Nicht der Typ, der sich darum bemühte, mit Schick und Schminke Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie trug Jeans und eine helle Jacke und ging beim Schieben des Kinderwagens leicht vorgebeugt.
»Los. Worauf wartest du?«, murmelte Marcy in den Kragen ihres Trenchcoats, aber ihre Füße verweigerten den Dienst. Was, wenn das Mädchen nicht Shannon war? Sie konnte schließlich nicht jede Frau mit einem Kinderwagen belästigen.
Doch das
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