Herzstoss
pflichtschuldig das Baby in ihrer Obhut bewunderte. Das war irgendwie süß, dachte Marcy, während sie sich einen Weg zwischen den langsamen Fußgängern bahnte. Erst als sie die beiden fast erreicht hatte, erkannte Marcy, dass sie denselben jungen Mann anstarrte, der sie vor ein paar Tagen mit dem Fahrrad überfahren hatte.
»Nein, das kann nicht sein«, rief sie und blieb so abrupt stehen, dass der Mann hinter ihr sie anrempelte.
»Tut mir schrecklich leid. Ich wusste nicht …«, setzte er an.
»Meine Schuld«, erklärte Marcy ihm. »Ich dachte, ich … Es war meine Schuld.« Sie bildete sich das bestimmt nur ein. Es konnte nicht derselbe Junge sein.
Oder doch?
Sie wagte sich ein Stück näher heran.
»Und hört sie irgendwann auf zu schreien?«, fragte der junge Mann Shannon über Caitlins konstantes Geplärr hinweg.
»Der Kinderarzt sagt, sie hätte Koliken«, erklärte Shannon.
»Hat er auch gesagt, wie lange sie dauern?«
»Er denkt nicht, dass es noch viel länger so weitergeht, aber ich glaube ehrlich gesagt, er weiß es selbst nicht.«
»Mein Gott, dass muss ja echt nerven. Kann man da nix machen?«
»Glaub mir, wir haben alles versucht. Sie auf dem Arm herumtragen, lange Spaziergänge, Autofahrten. Einen Schnuller will sie nicht. Nichts funktioniert. Nur einmal hat sie Ruhe gegeben – bei dieser Frau, die ich neulich im Park getroffen habe. Sie musste sie nur im Arm halten, und Caitlin war sofort still. Es war wie ein Wunder, sag ich dir.«
»Klingt eher nach Hexerei«, sagte der Junge lachend und spuckte auf den Bürgersteig, um den bösen Blick abzuwehren. »Bist du sicher, dass sie keine Hexe war?«
Man hat mich schon Schlimmeres genannt, dachte Marcy und kam noch ein kleines Stück näher. »Er ist es«, flüsterte sie.
Was hatte das zu bedeuten? War es schlichter Zufall, oder steckten finstere Machenschaften dahinter? In welcher Verbindung stand er zu Shannon? Und wenn es eine Verbindung gab, folgte daraus zwangsläufig, dass er auch etwas mit Devon zu tun hatte? »Okay, ganz ruhig. Denk nach. Und keine voreiligen Schlüsse.« Aber wie sollte sie die nicht ziehen? Sie hatte Devon gesucht, sie gerade wundersamerweise auf einer Fußgängerbrücke stehen sehen und war sogar schon auf sie zugelaufen, als er just in diesem Moment wie aus dem Nichts mit seinem Fahrrad aufgetaucht war und sie umgefahren hatte. Seine langatmigen Entschuldigungen hatten das Ganze weiter verzögert, und als sie sich seiner plumpen Fürsorge endlich entziehen konnte, war Devon verschwunden. Marcy hatte angenommen, es wäre nur schlechtes Timing und Pech gewesen. Aber vielleicht steckte ein Vorsatz dahinter. Vielleicht hatte der Junge sie absichtlich umgefahren, um Devon so zu alarmieren, damit sie Zeit hatte zu fliehen.
Was folgte daraus? Wusste Devon, dass sie hier war?
War das möglich?
Oder deutete sie zu viel in die Sache hinein. Schließlich war Cork keine übermäßig große Stadt. Es war durchaus denkbar, dass Shannon und der Junge sich kannten, dass ihre Beziehung – wenn man einen Plausch an einer belebten Straßenecke als Beziehung bezeichnen konnte – ebenso unschuldig wie harmlos war. Dass Shannon auch mit einem Mädchen befreundet war, das sie als Audrey kannte, musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Vielleicht kannte der Junge Audrey gar nicht.
Oder eben doch.
Und was folgte daraus?
»Was folgt daraus?«, wollte Marcy von dem Pflaster vor ihren Füßen wissen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Marilyn?«, hörte sie jemand von Weitem rufen und dann noch einmal näher: »Marilyn? Hu-hu.«
Marcy blickte auf. Shannon überquerte heftig winkend die Straße und kam auf sie zu.
»Ich bin’s. Shannon. Aus dem Park«, verkündete sie über Caitlins lautes Geschrei hinweg. »Ich dachte, ich hätte Sie wiedererkannt.«
Marcy mühte sich mit aller Kraft um Fassung. Am liebsten hätte sie Shannons Ellbogen gepackt und Antworten verlangt: Wer ist der Junge, mit dem du gerade gesprochen hast? In welcher Verbindung steht er zu Audrey? Gibt es eine? Was kannst du mir über meine Tochter erzählen? Stattdessen sagte sie: »Shannon, natürlich. Schön, Sie wiederzusehen.«
»Was für ein unglaublicher Zufall! Ich habe gerade eben von Ihnen gesprochen, und plötzlich sind Sie hier.«
»Sie haben über mich gesprochen?«
»Ja, mit einem Freund. Na ja, eigentlich eher ein Bekannter. Ich hab ihm erzählt, wie Sie das Baby beruhigt haben. Echt Wahnsinn!« Sie blickte zu der Stelle, wo sie und der Junge
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