Herzstoss
besonders. Obwohl sie jedes Mal ein Riesentheater macht, wenn sie Caitlin sieht. Trotzdem …«
»Trotzdem …?«
»Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl.« Shannon sah auf die Uhr.
»Und was macht Audrey?«
»So wenig wie möglich.« Shannons Gesicht nahm die Farbe reifer Tomaten an, so als habe sie gerade etwas Unaussprechliches gesagt. »Sie arbeitet als Aushilfe. Hier und da. Du meine Güte, wissen Sie, wie spät es ist? Ich muss wirklich los.«
Marcy legte die schlafende Caitlin behutsam wieder in den Kinderwagen. Es gab so vieles, was sie Shannon noch fragen wollte: Wo wohnte Audrey? Woher stammte sie? Hatte sie irgendwas über ihre Vergangenheit oder ihre Mutter gesagt? Wo konnte sie sie finden?
»Vielen Dank für Ihre Hilfe mit Caitlin«, sagte Shannon. »Es war wirklich nett, mit Ihnen zu reden. Vielleicht treffen wir uns ja mal irgendwann wieder.«
Marcy sah Shannons schlanker Gestalt nach, die den Kinderwagen zum Ausgang des kleinen Parks, den Hügel hinauf und aus ihrem Blickfeld schob. »Verlass dich drauf«, sagte sie.
KAPITEL ZWÖLF
In den nächsten drei Tagen beobachtete Marcy Shannons Kommen und Gehen. Sich noch einmal die Adelaide Road hinaufzuwagen, erschien ihr zu riskant, weil die neugierige Nachbarin der O’Connors auf der Lauer liegen könnte. Also saß Marcy in dem kleinen Park, bis sie Shannon mit dem Kinderwagen auftauchen sah, was für gewöhnlich um elf und dann noch einmal gegen zwei Uhr nachmittags der Fall war, jedes Mal angekündigt von Caitlins lautem Geschrei, das so regelmäßig ertönte wie die Glocken der St. Anne’s Shandon Church.
Vormittags folgte sie Shannon über die gewundenen Pfade neuer Abzweigungen, immer darauf bedacht, einen sicheren Abstand zu halten, wobei sie nur gelegentlich Schutz in einem Hauseingang suchen musste, um nicht entdeckt zu werden. Der Nachmittagsspaziergang war stets der längere der beiden Ausflüge. Gestern hatte Shannon sich sogar bis in die Innenstadt gewagt und den Kinderwagen pflichtbewusst über das Kopfsteinpflaster geschoben, während sie begehrliche Blicke in die Schaufenster entlang des Weges geworfen hatte. Um drei Uhr hatte sie auf der Terrasse eines kleinen Pubs einen Tee bestellt, und Marcy hatte von der anderen Straßenseite aus beobachtet, wie Shannon wiederholt und nur mäßig erfolgreich versucht hatte, gleichzeitig ihren heißen Tee zu trinken und das schreiende Baby im Arm zu wiegen. Sie hatte überlegt, zu ihrer Rettung zu eilen, sich jedoch letztendlich dagegen entschieden. Selbst ein so naives Mädchen wie Shannon könnte bei einer weiteren Zufallsbegegnung argwöhnisch werden. Nein, es war besser, sie aus der Distanz im Auge zu behalten, zu beobachten, wohin sie ging und mit wem sie sprach.
Sie sprach nur mit niemandem.
»Ich verliere langsam den Mut«, hatte Marcy Liam am Abend zuvor am Telefon anvertraut.
»Das dürfen Sie nicht. So groß ist die Stadt auch nicht. Früher oder später führt sie Sie bestimmt zu Audrey.«
»Für mich muss es aber früher sein.«
»Wie kann ich helfen?«
»Sie haben schon mehr als genug getan.«
»Soll ich Sie morgen begleiten? Ich kann mir einen Tag freinehmen …«
»Nein, darum kann ich Sie nicht bitten.«
»Sie müssen mich nicht bitten.«
»Nein«, hatte Marcy beharrt. »Es ist besser, wenn Sie im Grogan’s bleiben. Falls Audrey wieder vorbeigeht.«
»Okay, was immer Sie für das Beste halten«, hatte er zugestimmt und hinzugefügt: »Ich könnte jetzt vorbeikommen.«
»Nein«, hatte Marcy rasch abgewehrt. Sosehr sie ihn hatte sehen wollen, sosehr sie sich von ihm angezogen fühlte, und sosehr sie glauben wollte, dass auch er sich von ihr angezogen fühlte, sie durfte sich nicht ablenken lassen. Nicht, wo sie so kurz davor stand, ihre Tochter zu finden. »Wir sprechen uns morgen«, hatte sie gesagt.
»Ich bin hier.«
Nun beobachtete Marcy, wie Shannon Caitlins Kinderwagen über die Fußgängerbrücke über den South Channel schob und die Mary Street in Richtung der St. Patrick’s Street hinaufging, einer belebten Durchgangsstraße. Obwohl es bedeckt war und sich am Horizont die üblichen Wolken sammelten, war es warm, wie Marcy merkte, als sie das Gewicht des Trenchcoats spürte, den sie seit mehr als einer Stunde über dem Arm trug. Vielleicht konnte sie ihn morgen tatsächlich in der Pension lassen, dachte sie mit einem Blick zur Wetterfahne von St. Anne’s. »Lass mich raten«, murmelte sie in den Kragen ihrer blauen Bluse. »Vorhersage:
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