Herzstoss
regnerisch.«
Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass Shannon verschwunden war.
Marcy drehte sich um die eigene Achse und blickte hektisch in alle Richtungen. Sie sah nur Schaufenster und Fußgänger, aber nirgends eine Spur von Shannon.
Wohin konnte sie gegangen sein?
»Okay, ganz ruhig«, ermahnte Marcy sich. »Sie taucht schon wieder auf.« Schließlich war Shannon schon mehrmals in der Menge der nachmittäglichen Einkäufer untergetaucht, nur um Sekunden später mit wippendem Pferdeschwanz wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Mal direkt vor ihren Augen, mal wie vom Erdboden verschluckt.
Selbst wenn Marcy sie nicht wiederfand, war es nicht so, als ob sie nicht wüsste, wo das Mädchen wohnte. Und Shannon war auch kein besonders abenteuerlustiges Geschöpf, sondern folgte einem strengen Tagesablauf. Marcy konnte ebenso gut morgen neu anfangen.
Ganz von vorne anfangen, dachte Marcy und unterdrückte ihre Tränen.
»Haben Sie schon daran gedacht, zur Polizei zu gehen?«, hatte Liam am Abend zuvor gefragt.
Aber Marcy wollte die Polizei nicht einschalten. Was, wenn Devon irgendwelchen Ärger hatte? Was, wenn sie sie dadurch noch weiter in ihr Versteck trieb? Was, wenn ihre verzweifelten Bemühungen, ihre Tochter wiederzusehen, dazu führten, dass Devon hinter Gittern landete? Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen.
»Ich könnte einen Privatdetektiv engagieren«, hatte sie im Gegenzug vorgeschlagen.
Liam hatte ohne große Begeisterung zugestimmt. »Das könnten Sie machen, nehme ich an. Aber es ist nicht wie im Kino. Jedenfalls nicht hier in Cork. Privatdetektive machen die Leute hier eher misstrauisch. Da sind Sie allein wahrscheinlich erfolgreicher. Zumindest bis auf Weiteres.«
Aber beim Detektivspielen hatte sie genauso versagt wie bei den meisten Dingen in ihrem Leben, dachte Marcy inzwischen und hakte die Stationen ihres Scheiterns ab wie Punkte auf einer Einkaufsliste. Sie hatte als Tochter versagt – Häkchen. Sie hatte als Schwester versagt – Häkchen. Sie hatte als Mutter versagt – doppeltes Häkchen.
Sie hatte nie versucht, beruflich Karriere zu machen. Nach dem College hatte sie zwar in der Marketing-Abteilung einer kleinen Werbeagentur gearbeitet, doch der Job hatte sich immer vorübergehend angefühlt und ein paar Jahre später zusammen mit der Agentur in Luft aufgelöst. Kurz darauf war sie mit Devon und dann mit Darren schwanger geworden, wozu brauchte sie da einen Job? Sie hatte zu Hause auch so alle Hände voll zu tun.
Sie hörte Devons Stimme, aus der Vergangenheit herangeweht durch das Gelächter einer Gruppe Teenager in der Nähe.
»Wozu muss ich das College fertig machen?«, wollte sie wissen. Sie hatte Marcy gerade davon unterrichtet, dass sie ihr Studium ein Semester vor dem Examen abbrechen wollte.
Marcy hatte mit ihr diskutiert, obwohl eine leise Stimme in ihrem Kopf sie davor gewarnt hatte. »Weil eine Ausbildung wichtig ist.«
»Und warum ist sie so verdammt wichtig?«
»Darum. Und bitte nicht in diesem Ton.«
»Du regst dich auf, weil ich ›verdammt‹ gesagt habe? Was ist so schlimm an ›verdammt‹, verfickt noch mal?«
»Devon …«
Devon begann eine Reihe von Obszönitäten herunterzurattern. »Scheiße, ficken, Schwanz, Fotze, Wichser.«
»Das ist doch albern.«
»Stecher, Drecksack, Schwanzlutscher, Möse, Arschloch …«
»Ich führe dieses Gespräch nicht.«
»Du hast es doch angefangen.«
»Und ich beende es auch.« Marcy wandte sich ab, bevor Devon ihre Tränen sah.
»Klar, Mommy. Lauf ruhig weg. So löst du ja alle deine Probleme.«
»Es geht nicht um mich«, sagte Marcy und genoss es, dass ihre Tochter sie immer noch ›Mommy‹ nannte. »Arschloch« und »Mommy« in einem Atemzug, dachte sie.
»Und ich will nicht weiterstudieren. Was soll das Theater? Es ist mein Leben, nicht deins.«
»Dir fehlen nur noch ein paar Scheine. Warum machst du nicht dein Examen, dann hast du zumindest mehr Alternativen?«
»Alternativen? Was für Alternativen hab ich denn? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich bin ein verdammtes Wrack. Und wage nicht, mir zu sagen, dass ich nicht in diesem Ton reden soll.«
»Nimmst du deine Medikamente?«
»Was hat das denn mit irgendwas zu tun?«
»Weil so was immer passiert, wenn du deine Medizin absetzt.«
»Was genau meinst du bitte?«
»Das Fluchen, die Launen, alles. Es wird alles schlimmer.«
»Schlimmer für dich vielleicht. Für mich nicht.«
»Bitte, Devon.«
»Bitte, Mommy«, äffte
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