Herzstoss
wie Caitlin. Mit ein wenig Glück würden sie also noch zu Hause sein. Zeit, um sie noch vor ihrer Abfahrt zu erwischen und zu warnen.
Was würde Shannon sagen? Würde sie Marcys Geschichte bestätigen und wagen, Mrs. O’Connors Zorn auf sich zu ziehen, wenn sie gestand, wo sie mit wem gewesen war? Oder würde sie alles leugnen, weil sie Angst hatte, ihren Job zu verlieren? Würde sie spöttisch lachen und Marcys Beteuerungen als die Fantasien einer Geistesgestörten abtun, die sie schon seit Tagen behelligte, einer offensichtlich labilen Frau, die unter Wahnvorstellungen litt und der örtlichen Polizei bereits bekannt war?
Genau deswegen konnte sie die Beamten Murphy, Doyle und Sweeny ja nicht anrufen. Was hätte sie ihnen erzählen sollen? Dass sie ein Telefonat vor einem schmuddeligen Nachtclub belauscht hatte, genauer gesagt, eine Seite eines vagen Gespräches, und aus dieser kurzen einseitigen, vagen Unterhaltung magischerweise geschlossen hatte, dass das Baby der O’Connors in Gefahr war und dass ihre Tochter, ja, just jene Tochter, die vermisst wurde und nach der sie suchte, während alle anderen davon überzeugt waren, dass sie vor fast zwei Jahren ertrunken war, daran beteiligt war. Ja, natürlich würden sie ihr glauben? Warum auch nicht?
»Es ist egal«, sagte Marcy sich.
Es spielte keine Rolle, ob die O’Connors ihr glaubten oder nicht. Es spielte keine Rolle, ob irgendjemand ihr glaubte. Entscheidend war, dass die O’Connors nach ihrer Warnung vor einer potenziellen Bedrohung umso wachsamer auf ihre Tochter achten würden, womit Marcy den schwachsinnigen Plan vereiteln würde, der für alle Beteiligten nur in einer Katastrophe enden konnte. Sie würde das schaffen, woran sie früher immer wieder gescheitert war: Sie würde ihre Tochter vor sich selbst schützen.
Vorausgesetzt, Devon war beteiligt.
War sie das?
Bevor sie aus dem Zimmer rannte, nahm Marcy sich einen Moment Zeit, sich die Haare zu kämmen und einen Hauch von Lippenstift aufzutragen. Es würde bestimmt nicht helfen, wenn sie auch noch verwirrt aussah. Was sie den O’Connors erzählen wollte, war schon verrückt genug.
Sie entschied, ein Taxi zu nehmen, einen Fehler, den sie unverzüglich bereute, nachdem sie sicher auf der Rückbank saß. Der Verkehr war noch dichter als sonst und der Fahrer besonders gesprächig. »Geht es nicht irgendwie schneller?«, fragte sie, beugte sich vor und nannte ihm die Adresse der O’Connors. »Ich hab es wirklich schrecklich eilig.«
»Schrecklich eilig, ja?«
»Sonst komme ich zu spät.«
»Amerikaner haben es immer eilig.«
»Ich bin eigentlich keine Amerikanerin«, verbesserte Marcy ihn, ein automatischer Reflex, den sie sich lieber verkniffen hätte.
»Was sind Sie denn?«
»Kanadierin.«
Er schnaubte. »Und was ist der Unterschied.«
Marcy hatte keine Lust, auf die verschiedenen kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Ländern einzugehen. »Was ist denn der Unterschied zwischen Nord- und Südirland?«, fragte sie zurück und biss sich auf die Lippe. Sie musste wirklich verrückt sein, dachte sie. Welchen Sinn hatte es, den Mann zu provozieren?
»Soll das ein Scherz sein?«, stotterte der Taxifahrer. »Der Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden Irlands?«
»Vergessen Sie es«, sagte Marcy. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Kennen Sie sich denn gar nicht in der Geschichte aus?«
»Es war eine alberne Bemerkung.«
»Ich geb Ihnen einen kleinen Auffrischungskurs.«
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Die ersten menschlichen Zeugnisse in Irland stammen von 8000 vor Christus«, sagte er und räusperte sich theatralisch.
Gütiger Gott, dachte Marcy.
»Um 2000 vor Christus gab es hier schon die ersten Kupferminen. 700 vor Christus begann die keltische Besiedlung Irlands. Die Gälen kam 100 nach Christus. Etwa dreihundert Jahre später kehrte der heilige Patrick als christlicher Missionar nach Irland zurück.« Das Taxi fuhr durch ein riesiges Schlagloch, sodass Marcy auf ihrem Sitz knapp einen halben Meter nach oben geschleudert wurde.
»Meinen Sie, Sie könnten sich auf die Straße konzentrieren?«, fragte sie den Fahrer.
»Die Jahre zwischen 500 und 800 nach Christus werden häufig als das Goldene Zeitalter bezeichnet«, sagte er, ohne sie zu beachten. »Irland wurde zu einem der größten Zentren des Christentums in Europa.«
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie gekränkt habe …«
»Dann fielen die Wikinger ein, später die Dänen und
Weitere Kostenlose Bücher