Herzstoss
dann die Engländer. 1204 begann der Ausbau von Dublin Castle zu einer Festung der englischen Macht. Im 16. Jahrhundert erklärte sich Heinrich VIII. zum König von Irland und begann mit der Unterdrückung der katholischen Kirche. Königin Elisabeth I. erklärte Irland dann zu einem anglikanischen Land.«
Marcy ließ sich in den Sitz zurücksinken und entschied, dass jeder Widerstand zwecklos war. Nun denn. Die Geschichtsstunde würde die Zeit vertreiben, ihre Gedanken beschäftigt und ihren Blutdruck im grünen Bereich halten. Vielleicht lernte sie sogar etwas.
»1641 wurde ein irisch-katholischer Aufstand in Ulster niedergeschlagen. Acht Jahre später marschierte Oliver Cromwell ein. 1690 wurde der letzte katholische König, Jakob II., besiegt und die protestantische Herrschaft in England gefestigt. 1782 wurde dem irischen Parlament die Unabhängigkeit zugebilligt. 1801 wurde es aufgelöst, und Irland wurde ein Teil des Vereinigten Königreiches. Dann 1845«, verkündete er ominös. »Sie wissen doch bestimmt, was damals geschehen ist.«
Marcy setzte sich wieder gerade hin und grübelte verzweifelt nach der richtigen Antwort wie eine Schülerin, die im Unterricht nicht aufgepasst hatte. »Ich b-b-bin mir nicht sicher«, stotterte sie.
»Der Beginn der großen Hungersnot«, sagte er und schüttelte missbilligend seinen passenderweise roten Schopf. »Sie dauerte mehr als drei Jahre. Fast zwei Millionen Menschen sind entweder gestorben oder ausgewandert, die meisten nach Amerika.«
»Ja, das war schrecklich …«
»1886 und noch einmal 1894 wurden Anträge auf autonome Selbstverwaltung, genannt Home Rule, vom Parlament abgelehnt«, fuhr er fort und tat ihr Mitleid mit einer Handbewegung ab. »1905 wurde die Sinn Féin gegründet. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ärger?«, fragte Marcy und sah den wütenden Blick des Fahrers im Rückspiegel.
»Sinn Feín bedeutet ›wir selbst‹. 1918 errang die Partei einen Erdrutschsieg gegen die Irish Parliamentary Party. Von 1919 bis 1921 führte Michael Collins den irischen Unabhängigkeitskrieg, der zum Anglo-Irischen Vertrag führte, in dem Irland in zweiunddreißig Countys unterteilt wurde, von denen sechsundzwanzig den Irischen Freistaat bildeten, während sechs beim Vereinigten Königreich blieben.«
Marcy beugte sich wieder vor. Obwohl sie diese spontane Geschichtsstunde bestimmt nicht gewollt hatte, fand sie sie zunehmend interessanter. »Waren Sie früher Lehrer?«
Er schüttelte den Kopf. »Das könnte Ihnen jeder Ire erzählen. Könnten Sie das nicht? Über Kanada, meine ich?«
»Ich war nie besonders gut in Geschichte«, antwortete Marcy. Worin war sie eigentlich je gut gewesen?
»1922/23 – der Irische Bürgerkrieg«, verkündete der Taxifahrer, »zwischen der Regierung des Freistaats und den Gegnern des Anglo-Irischen Vertrages. Michael Collins wurde von der IRA ermordet, die den Vertrag als Ausverkauf betrachteten. 1937 gab sich der Freistaat eine neue Verfassung und trat aus dem Commonwealth aus. Der Landesname wurde zu Eire geändert. 1948 kappte die Republik Irland ihre letzten konstitutionellen Verbindungen zu Großbritannien.«
»Sie haben den Zweiten Weltkrieg ausgelassen«, erinnerte Marcy ihn.
»Irland war neutral.«
»Sie bekämpfen sich lieber gegenseitig«, bemerkte Marcy und war dankbar, als der Mann lachte.
»Ist wohl so.« Er hielt an. »Nun, da wären wir. Adelaide Road 117.«
Marcy blickte aus dem Seitenfester auf das große gelbe Backsteinhaus mit dem von Blumenbeeten gesäumten Pfad und der dreitorigen Garage. »Vielen Dank. Auch für die Geschichtsstunde. Ich habe eine Menge gelernt.«
»Wenn ich Sie das nächste Mal treffe, frage ich Sie ab«, sagte der Taxifahrer, bevor er losfuhr.
Marcy sah das Taxi um eine Ecke verschwinden, drehte sich um, rannte den Pfad hinauf, klingelte und klopfte an die schwarze Haustür der O’Connors. »Bitte lass jemanden zu Hause sein«, betete sie. »Bitte lass mich nicht zu spät kommen.«
Aber nach einer Weile wurde offensichtlich, dass niemand da war.
»Verdammt«, rief Marcy und ging um das Haus herum, obwohl sie wusste, dass es wenig Sinn hatte, auch noch an die Seitentüre zu klopfen. Vor der Garage sprang sie hoch und versuchte, durch die schmale Scheibe ganz oben an allen drei Toren zu spähen. Doch das Glas war zu hoch, die Garage zu dunkel, und welchen Unterschied machte es auch, ob ein Wagen darin parkte? Wenn die O’Connors eine Garage mit drei Toren hatten, besaßen sie
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