Hesmats Flucht
sehen, wie sie um das Fahrzeug gingen. Er war nur eine fremde Stimme und ein Paar gute Schuhe, die um den Lastwagen schlurften. Er machte sich nicht die Mühe, einen Blick unter seinen Lastwagen zu werfen.
Immer noch redete Fahid von einer Glückssträhne, während Hesmat seine Angst nicht loswurde. Ständig rechnete er mit einer Kontrolle, damit dass ihn jemand unter dem Laster hervorreißen würde und ihn einsperrte. Aber es passierte nichts und mit der Abenddämmerung rollte der Lastwagen die Straße hinunter in die Stadt.
Fahids Onkel Hanif war selbst vor 18 Jahren geflüchtet. Über Tadschikistan wollte er damals weiter nach Norwegen, blieb aber in Duschanbe hängen, um hier Geschäfte zu machen, wie er es nannte. Geschäfte, über die Hesmat nie Genaueres erfuhr. Geschäfte, die ihn zu einem angesehenen Mann mit einem luxuriösen Haus abseits der üblichen Probleme der armen Stadt gemacht hatten. Die Männer grüßten ihn entweder mit Respekt oder wechselten die Straßenseite vor ihm.
»Du erinnerst mich an meinen Bruder«, sagte er.
»Wie alt ist er?«, fragte Hesmat.
»Er ist schon lange tot«, antwortete Hanif.
Hanifs Bruder war zusammen mit einem Freund aus Kabul geflüchtet, als die Russen einmarschierten.
»Zuerst wollte er nicht mit mir kommen, doch als ich weg
war und hier in Sicherheit, konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Er wollte nach Norwegen«, sagte Hanif, »aber er hat es nicht mal bis hierher geschafft. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.«
Hesmat fühlte sich bei den Verwandten seines Freundes wohl und Hanif machte ihm schließlich ein großzügiges Angebot.
»Bleib bei uns«, sagte er. »Ich kann dir einen guten Job besorgen. Du kannst hier zur Schule gehen.«
Vertraue niemandem. Sein Misstrauen hatte sich so in Hesmats Kopf festgesetzt, dass es ihm schwerfiel, die Hand, die im angeboten wurde, zu ergreifen. Er zögerte, die Worte seines Vaters siegten gegen jede Vernunft.
»Du musst jemandem vertrauen«, sagte Fahid, als Hesmat ihm von dem Angebot erzählte. »Dein Vater hat es gut gemeint, aber als Erwachsener hat er leicht reden. Du bist noch ein Junge, du musst ein paar Menschen vertrauen, sonst wirst du nicht weit kommen.«
»Und warum bleibst du dann nicht hier?«, fragte Hesmat.
Fahid lachte. Wie immer lachte er nur. »Mein Ziel heißt Frankreich«, wiederholte er. »Was soll ich hier? Ich will nicht der Laufbursche meines Onkels werden. Und du?«
»Ich werde Arzt«, sagte Hesmat. »Ich gehe nach London.«
»Und wenn dir das zu weit ist«, sagte Fahid, »dann bleibst du einfach bei mir in Frankreich.«
Wenn Hanif Zeit hatte, nahm er sie in seinem dunklen Wagen mit in die Stadt. Er zeigte ihnen das Somoni-Monument mit seinem riesigen Bogen und der goldenen Krone, das bunt bemalte Puppentheater und die größten Märkte. Dort aßen sie Plow, ein Reisgericht mit frischem Gemüse, und bewunderten die Frauen, die in ihren bunten Kleidern unter den blauen Planen,
die die Stände überspannten, umherliefen und hastig einkauften.
»Hast du gewusst, dass die Stadt den Namen von diesen Märkten hat?«, fragte Fahid. »Hier hat es schon immer montags einen Markt gegeben und so ist dann auch der Name entstanden.« Duschanbe bedeutete nämlich auf Tadschikisch Montag.
Die Stadt blühte. Alle Mandel- und Obstbäume und die gewaltigen Platanen, die die meisten Straßen zierten, standen in voller Blüte. Als Hesmat die Beerensträucher sah, begann er plötzlich, von seinem Vater zu erzählen.
»Irgendwann hat er mich einfach überrascht. Morgens ist plötzlich ein Motorrad mit Beiwagen vor unserer Tür gestanden, so eine wunderschöne grüne Militärmaschine. Er hat mich in den Beiwagen gesetzt, und die ganze Nachbarschaft ist zusammengelaufen, weil der Motor so laut war. Dann sind wir hinaus aus der Stadt, ganz weit weg von allen Menschen. - Es war eines der wenigen Male, wo er wirklich gelacht hat«, erzählte Hesmat.
Die Maschine holperte über die Schotterpiste, während die Pistole in ihrem Halfter gegen den Rücken seines Vaters schlug. Die Kinder in den Dörfern, die sie mit einer langen Staubfahne eindeckten, liefen dem Motorrad lachend und rufend nach.
»Ich war mir sicher, dass noch nie jemand auf der Welt so schnell gefahren war«, sagte Hesmat und lachte, was selten vorkam. »Wir sind allen einfach davongefahren.« Der Stadt, den Menschen, den Sorgen, für ein paar Stunden selbst dem Krieg. Es gab nur noch ihn, seinen Vater und die vibrierende Maschine zwischen
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