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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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verrückt?«, schimpfte Fahids Tante, als sie nach Hause kamen. »Seht ihr nicht, in welchem Zustand er ist? Er ist ja vollkommen betrunken! Wo wart ihr?«
    Die Männer lachten und gingen schlafen.
    Alles drehte sich, und Hesmat war sicher, dass er sterben würde.
    Hesmat drückte sich die Nase an der Autoscheibe platt, während die Stadt an ihm vorbeizog, und er beschloss, irgendwann hierher zurückkommen. Der Abschied war ihm schwergefallen, und Fahids Tante wandte sich ab, als die beiden Jungen in Bachtabats Wagen stiegen. Er hörte nicht, was Hanif durch das Seitenfenster zu dem Unbekannten sagte, aber als sie in den Wagen stiegen, schien der Fremde wenig begeistert von seinen neuen Kunden.
    »Hier, dein Pass«, sagte er schlecht gelaunt und warf Hesmats Papiere über die Schulter auf die Rückbank.
    Der Bahnhof, in dem sie der Schlepper kurz allein gelassen
hatte, war ein typisch russischer Plattenbau mit einer überraschend sauberen Halle.
    »Wartet hier«, hatte er gesagt und war nach einer halben Stunde mit einem weiteren Fremden zurückgekommen.
    »Das ist Khalil«, sagte er. Khalil war aus der Mongolei und, wie sich bald herausstellte, der Schaffner des Zuges, der sie nach Moskau bringen sollte. Er sollte während der Fahrt auf die beiden aufpassen und sie rechtzeitig vor den häufigen Kontrollen warnen und sicher verstecken.
    »Er kennt alle Verstecke im Zug und hat schon Hunderte sicher nach Moskau gebracht«, erzählte Bachtabat, zog seinen Geldbeutel aus der Hose und drückte dem Schaffner 400 Dollar in die Hand, zündete sich eine Zigarette an und verschwand ohne ein weiteres Wort.
    »Leicht verdientes Geld«, meinte Fahid. »In meinem nächsten Leben werde ich Schlepper. 2000 minus 400 für den Schaffner macht einen guten Schnitt.«
    »Hört auf«, sagte Khalil, »wir haben keine Zeit für diesen Blödsinn. Kommt jetzt!«
    Hesmat konnte sein Glück kaum fassen. In fünf Tagen, wenn er in Moskau aus dem Zug stieg, würde er als Erstes über den Roten Platz marschieren und an seinen Vater denken. Er würde Lenin besuchen und sich endlich wie ein richtiger Mann fühlen. In den Wochen bei seinen Freunden in Duschanbe hatte er ein paar Kilo zugenommen und in seinen neuen Jeans und dem neuen T-Shirt fühlte Hesmat sich bereits wie ein Europäer auf Reisen.
    »Was ein wenig Sicherheit, ein voller Bauch und ein bisschen Hoffnung ausmachen«, lachte Fahid, dann rollte der Zug an.
    Der Zug starrte vor Dreck und die Abteile quollen über vor Menschen. Sie hatten lange suchen müssen, bis sie einen Platz gefunden hatten, wo es sich aushalten ließ. Die Menschen hatten
riesige Taschen, große Koffer, Hühner, alles, was sich tragen ließ, an ihnen vorbei ins Innere des rauchenden Stahlungetüms geschleppt. Die Hitze und die stickige Luft hatten ihnen das Atmen schwer gemacht, und erst als Fahid vergeblich an einem Fenster riss, um etwas frische Luft ins Abteil zu lassen, sahen sie, dass die Scheiben verschweißt waren.
    Es roch nach Schweiß, nach Tieren, nach Tabak, den die Männer rauchten. Nur wenige hatten Augen für das Land. Es war ein armes Land, aber ein Land, in dem Frieden herrschte. Er hatte einen Pass, eine Fahrkarte nach Moskau und einen Freund an seiner Seite. In Moskau würde er den Bekannten von Tuffon suchen und dann nach London weiterreisen. Er starrte hinaus auf die riesigen Baumwollfelder, um so viele Bilder wie möglich in seinem Kopf mit nach London zu nehmen.
    »Was soll das?«, fluchte Hesmat und öffnete die Augen erst, als er keine Antwort von seinem Freund bekam, der ihm immer noch den Ellbogen schmerzhaft in die Rippen stieß.
    Erst jetzt bemerkte er, dass der Zug stehen geblieben war. Verschlafen blickte er auf seine Uhr: Sie waren seit drei Stunden unterwegs. Dann bemerkte er den Polizisten, der nur vier Reihen vor ihnen die Pässe kontrollierte. Hesmat spürte, wie sein Gesicht rot wurde, noch bevor der Polizist vor ihnen stand. Mit zittrigen Fingern kramte er seinen Pass aus dem Rucksack und reichte ihn schließlich dem Polizisten.
    »Wie heißt du?«
    Hesmat stotterte seinen Namen. Der Polizist schlug den Pass zu, und Hesmat atmete bereits erleichtert auf, als ihn eine Hand am Arm packte.
    »Raus hier!«, sagte der Polizist. »Und du kommst gleich mit«, sagte er zu Fahid, der sich still in seine Ecke gedrückt hatte.

    Hesmat wollte protestieren, spürte aber, wie die Tränen seine Stimme erstickten. Erst in der Polizeistation am Bahnhof lockerte der Fremde den Griff. Als sich der

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