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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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sah Hesmat, dass er eine mit Lehm verschmierte kleine Holzplatte in den Händen hielt. Erst dann erkannte er das Loch im Halbdunkel hinter seinem Vater in der Wand. Es war gerade groß genug, dass ein Erwachsener hindurchkriechen konnte.
    »Hinein mit dir«, hatte sein Vater gesagt und sich auf allen
vieren vor seinem Sohn in das Loch in der Wand gezwängt. Hesmat sah eine Röhre, die sich leicht nach unten neigte. An ihrem anderen Ende kniete sein Vater in einem kleinen Raum und wartete auf ihn. »Komm!«
    Während er sich vorwärtsschob, rieselte ihm Erde auf den Rücken. Er fragte sich, wie sein Vater in dieser Röhre Platz gehabt hatte, und bekam Angst, stecken zu bleiben.
    »Reiß dich zusammen«, sagte sein Vater, »du hast es gleich geschafft.«
    Sein Vater kniete auf dem Boden, und als Hesmat aufstand, spürte er die Decke über sich. Es war kalt, feucht, und im Schein der Taschenlampe, die sein Vater eingeschaltet hatte, sah Hesmat das Versteck hinter der Kellermauer. Der Raum war gerade so hoch wie er und maß etwa drei mal drei Meter. Er sah ein paar Decken, eine Matte, einen kleinen Hocker, auf dem ein Messer lag, und eine zweite Taschenlampe.
    »Ich habe das Loch schon vor Jahren gegraben«, sagte Hesmats Vater schließlich, »nur deine Mutter hat davon gewusst.«
    »Und hier soll ich bleiben?«, schluckte Hesmat. Er hatte Angst vor der Dunkelheit und vor allem vor der Stille. Hier war nichts zu hören. Kein Ton, kein Geräusch drang von außen in dieses Loch. Er hatte Angst. Schon jetzt hatte er Angst, obwohl sein Vater neben ihm kniete. Er konnte sich nicht vorstellen, hier alleine zu sitzen. Er würde es keine Minute hier aushalten.
    Sein Vater spürte die Angst. »Ich weiß«, sagte er, »aber es gibt kein besseres Versteck für dich. Ich werde nach dir sehen. Du musst mutig sein.« Dann schaltete er die Taschenlampe aus.
    Hesmat kannte dunkle Nächte, wenn Wolken die Sterne verdeckten und es keinen Strom in der Stadt gab. Trotzdem war die Dunkelheit draußen nie vollkommen gewesen. Immer gab es irgendwo die Spur eines Lichts und man konnte trotz der
Dunkelheit irgendetwas erkennen. Hier drinnen aber war es nur schwarz. Ein schwarzes Loch. Sein Herz klopfte laut und heftig. Er hörte seinen Vater atmen. Er atmete schnell. Dann endlich sagte er wieder etwas.
    »Du musst dich daran gewöhnen«, kam die Stimme aus der Dunkelheit. »Du musst schlafen und warten, bis ich wiederkomme. Du darfst die Taschenlampe nicht die ganze Zeit brennen lassen, denn ich habe nicht genug Batterien. Und du darfst auf keinen Fall Feuer machen. Du erstickst sonst.«
    Hesmat wollte etwas antworten, aber die Dunkelheit, die ihn erdrückte, ließ es nicht zu.
    Schließlich machte sein Vater die Taschenlampe wieder an. »Wenn du drin bist, drehst du dich um, kriechst nach oben und verschließt mit der Holztafel das Loch von innen.«
    Hesmat spürte, wie die Angst wieder größer wurde. »Aber ich bekomme keine Luft!«
    »Keine Angst«, sagte sein Vater, »es gibt genug Luft. Schau!« Er ließ den Lichtkegel zur Decke wandern. »Das Rohr dort führt hinauf ins Freie. Von draußen sieht es aus wie ein Loch in der Hausmauer, von dort kommt Luft herein. Du wirst nicht ersticken.«
    Nachdem sich sein Vater davon überzeugt hatte, dass Hesmat das Loch von innen alleine mit der Holztafel verschließen konnte, krochen sie wieder hinaus. Im Keller klopften sie sich den Dreck und die Erde von den Kleidern und gingen zurück ins Erdgeschoss.
    »Aber warum muss ich mich dort allein verstecken?«, fragte er.
    »Weil ich rausmuss, um mich umzuhören. Ich muss wissen, wann wir endlich nach Pakistan flüchten können.«
    »Und wann muss ich hinunter?«, hatte Hesmat gefragt.
    »Jetzt«, hatte sein Vater gesagt.

    Und jetzt war Hesmat wieder eingezwängt. Es war zwar nicht mehr das Loch in ihrem Keller, aber auch hier hatte er sofort Platzangst bekommen, und die Hitze und die schlechte Luft ließen die Panik in ihm aufsteigen.
    Irgendwann merkte er jedoch, dass der Zug nicht anhielt und es keine Kontrolle gab. Er beruhigte sich etwas und die Angst vor den Kontrolleuren verflog langsam. Wahrscheinlich hatten sie die Polizeistation schon längst hinter sich und der Schaffner hatte ihn nur aus Rache für die Probleme in dieses Loch gesperrt. Der Schaffner zahlte ihnen wahrscheinlich alles zurück: den Ärger mit Bachtabat, die Verantwortung, die er ein zweites Mal übernehmen musste, ohne noch einmal Geld dafür zu bekommen, und die Probleme, die

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