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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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versprochen.«
    Bachtabat fluchte, als er die beiden wiedersah. »Wenn ich gewusst hätte, was ich mir mit euch für Ärger aufhalse!«
    Hanif hatte, wie er es nannte, ein klärendes Gespräch mit ihm geführt, und jetzt kochte Bachtabat vor Wut, als er sie in den Zug steckte und den Schaffner anbrüllte, weil der mehr Geld verlangte.
    »Ihr bleibt hier sitzen«, befahl der Schaffner, »und rührt euch nicht vom Fleck. Ich will keinen Ärger. Habt ihr verstanden?«
    Hanifs Arm reichte bis in diesen Zug, und dieses Mal hatte er dafür gesorgt, dass jeder Beteiligte wusste, dass die Jungen sicher nach Moskau zu bringen waren, wenn sie sich in Duschanbe je wieder blicken lassen wollten.
    Der grüne Anstrich war längst von den 40 rostigen Waggons geplatzt, die die zwei Lokomotiven jetzt hinaus in die Hitze zogen. Auch diesmal hatten sich wieder Hunderte in die Abteile gedrängt und kämpften lange, bis jeder seinen Platz gefunden hatte. Die Gänge waren verstopft von Menschen, Taschen und Kindern, und es schien, als wolle das ganze Land nach Termez. Nach zwei Stunden hatte der Schaffner seine erste Runde gedreht
und kam schlecht gelaunt zurück. Auf einer Metallkiste drückte er seine Zigarette aus und gab Hesmat wortlos zu verstehen, ihm zu folgen.
    »Du bleibst«, sagte er zu Fahid.
    Schon nach ein paar Atemzügen glaubte Hesmat zu ersticken. Die Hitze war unerträglich und drückte die wenige Luft, die er bekam, wie eine Faust aus seinen Lungen. Es war wie in einem Backofen, und sobald er sich auf den Kabeln und Leitungen, auf denen er lag, nur ein wenig bewegte und seinen Rücken durchdrückte, brannte sich das heiße Blech über ihm schmerzhaft in sein Fleisch. Das Loch, in das der Schaffner ihn gesteckt hatte, war gerade mal 40 Zentimeter hoch, und Hesmat lag zentimetertief in Staub und Rattendreck.
    Als er die Luke über der Toilette geöffnet hatte, dachte Hesmat zuerst an einen bösen Scherz. Erst als der Schaffner ungeduldig wurde, zwängte sich Hesmat vorsichtig mit einer Ration Wasser und seinem Rucksack in den Backofen. Angeekelt und nass geschwitzt schob er sich Zentimeter für Zentimeter in die Röhre und bekam sofort Panik. Er wollte wieder zurück, aber das Loch war bereits verschlossen, und ohne Hilfe von außen ßen hatte er keine Chance, je wieder herauszukommen. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber die Hitze und die stickige Luft machten jeden vernünftigen Gedanken unmöglich. Er wollte etwas trinken. Er hatte seine Hände vor sich ausgestreckt und hielt die Flasche zwischen den Fingern, hatte aber in der engen Röhre nicht genug Platz, um die Ellbogen abzuwinkeln. Er robbte vorsichtig ein paar Zentimeter vor und führte den Mund an die Flasche. Ein kleiner Schluck schwappte in seinen trocknen Mund, aber der Großteil rann über sein Kinn und verwandelte den Staub und Dreck unter seiner Brust in eine schmierige Brühe.

    Durch kleine Löcher, die in die Röhre gebohrt waren, sah er jetzt die Menschen unter sich sitzen. Er hielt seinen Mund an eines der Löcher, um frische Luft zu bekommen. Mit jedem Atemzug saugte er eine Handvoll Staub und Dreck ein, den er sofort wieder ausspuckte. Er musste sich fast übergeben, aber das Brennen auf seinem Rücken ließ ihn die Übelkeit vergessen. Von irgendwo strömte etwas Licht in diesen kochenden Sarg. Die Sonne hatte das Blech über ihm in eine Heizplatte verwandelt, und der Schweiß, der ihm in Bächen aus allen Poren drang, sammelte sich unter seinem Bauch. Er würde es nicht lange aushalten. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber die Panik und das Gefühl, zu ersticken, verstärkten sich mit jeder Bahnschwelle, die er am ganzen Leib spürte.
    Wieder ein dunkles Loch, wieder die Angst vor dem, was auf ihn zukommen würde. Sofort musste er an jenes erste dunkle Loch zurückdenken, in dem sein Vater ihn wochenlang versteckt hatte. Noch jetzt roch Hesmat den Moder in dem feuchten dunklen Keller in ihrem Haus in Mazar. Täglich rechnete sein Vater damals mit dem Schlimmsten, und um seinen Sohn zu retten, hatte er beschlossen, ihn in das Versteck im Keller zu bringen. Die verstaubte und viel zu schwache Glühbirne hatte den Raum in ein trübes Licht getaucht. Vorsichtig hatte sein Vater ein kaputtes Fahrrad, ein paar Bretter, eine Schachtel mit Nägeln und Werkzeug auf die Seite geschoben, um Platz für seine Füße zu haben, und sich vor die hintere Wand des Kellers gekniet. Mit seinen Handknöcheln klopfte er gegen die Ziegelwand. Als er sich umdrehte,

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