Hesmats Flucht
hatte. »Arbeitsbeginn ist um sechs Uhr früh. Um sieben Uhr abends geht’s zurück in die Zelle, die Aufseher haben immer recht, und seid vor den anderen Gefangenen auf der Hut.«
Zwei Stunden waren sie in dem rostigen Gefängnistransporter durch die Stadt gefahren. Durch eine doppelte Mauer kamen sie auf einen Platz, der so groß war wie ein halbes Fußballfeld. In der Mauer rund um den Platz befanden sich die Zellen für die etwa dreihundert Erwachsenen, die sich jetzt an den Gitterstäben drängten, um einen Blick auf die Neuankömmlinge werfen zu können.
Fahid schien seine Angst schnell wieder vergessen zu haben, als sie an den Männern vorbei in eine eigene Zelle geführt wurden. »Ich habe dir doch gesagt, wir sind Glückspilze«, lachte er.
»Hör auf! Ich kann es nicht mehr hören«, sagte Hesmat. »Wenn wir wirklich Glück hätten, wären wir schon längst in Moskau. Das ist kein Glück.«
Fahid wischte Hesmats Pessimismus wie immer mit einer
Handbewegung weg. »Aber siehst du nicht, dass es irgendwer gut mit uns meint?«
Die Zelle maß ungefähr zwei mal drei Meter. In der Ecke stand ein Kübel für ihre Notdurft, an den Wänden hatten frühere Gefangene Namen und Dinge geschrieben, die sie nur schwer entziffern konnten. Ein Stuhl auf drei Beinen, der aussah, als würde er die Wand stützen, war das einzige Möbelstück. Ansonsten war die Zelle leer. Es gab keine Matten, kein Bett, nur einen kalten, von einzelnen abgeschlagenen Fliesen durchzogenen grauen Steinboden. Durch ein kleines Fenster sickerte der Lärm vom Hof und den anderen Zellen herein. In unregelmäßigem Abstand kamen Autos und fuhren wieder weg, irgendwann verstummten auch die Stimmen der Männer in ihren Zellen.
Am Abend brachte ihnen ein Aufseher eine Suppe, die ungesalzen war und nach Waschmittel schmeckte, in einer Plastikschüssel, die braun verkrustet und augenscheinlich noch nie gewaschen worden war. Es war gerade genug, um ihre leeren Bäuche zu wecken, die daraufhin nach mehr verlangten.
Zornig warf Fahid schließlich die leere Schüssel in die Ecke. »Was für ein Saufraß«, schimpfte er.
Die Männer wollten sie an die Gitter locken.
»Sei vorsichtig«, sagte Hesmat, der seinen Freund zurückhalten wollte. »Das sind doch alles Mörder und Verbrecher!«
»Was sollen sie mir tun? Sie sind doch eingesperrt«, entgegnete Fahid.
Hesmat blickte sich nach dem Wärter um. Es würde nicht lange dauern und einer der Aufseher würde sie verjagen. Er senkte den Kopf und schrubbte weiter.
Frühmorgens hatte der Wärter sie aus der Zelle geführt und mitten auf den Platz gestellt. »Putzen!«, hatte er in einer Sprache
gesagt, die sie nicht verstanden, aber es war nicht misszuverstehen. Sie kehrten den ganzen Vormittag, bis sie den Platz sauber hatten, bevor sie sich an den kleinen Garten machten, der wie eine Verhöhnung mitten auf dem Betonplatz angelegt war und gerade genug Platz für die Wurzeln eines Baumes bot. Den ersten Kübel mit frischem Wasser leerte Fahid Hesmat über den Kopf, während er versuchte, mit seinem lauten Lachen nicht das ganze Gefängnis auf sich aufmerksam zu machen. Dann kehrten sie die Einfahrt.
Sie hatten schnell bemerkt, dass die Aufseher kein Interesse an ihnen hatten. Sie ließen sich kaum blicken, kamen nur morgens, kontrollierten die Zellen der anderen Gefangenen und schickten Fahid und Hesmat zum Putzen ins Freie. Danach verdrückten sie sich in die Wachstube und schliefen auf ihren Stühlen. Andere holten die Gefangenen ab und brachten sie zum Arbeiten hinaus aufs Land. Am späten Nachmittag kehrten sie zurück und steckten den zweiköpfigen Putztrupp und die zurückgekehrten Männer wieder in ihre Zellen, während sie die Schwerverbrecher, die nicht aufs Land zum Arbeiten durften, in kleinen Gruppen eine Stunde lang auf den Hof führten. Es war die einzige Stunde, in der Leben in das Gefängnis kam. Die Wachbeamten standen mit ihren Waffen im Kreis um die Gefangenen und warteten auf eine falsche Bewegung von ihnen.
Mit der Dämmerung hieß es für die beiden dann wieder zurück auf den Platz, zurück zur Knochenarbeit. Die Arbeit war bald Routine, und das Putzen und Schrubben wurde nur vom Eintreffen hoher Beamter unterbrochen, deren Auto sie in der Zeit ihres Besuchs zu polieren hatten.
Probleme gab es nur mit dem Gefängniskoch. Niemand kannte seinen Namen, und darüber, warum er einsaß, gab es nur Gerüchte. Er war schon seit Jahren im Gefängnis und hatte
seine Privilegien. Erst nach
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