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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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habe sie von meinem Vater, und sie ist das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.«
    Diesmal sah er den Schlag kommen, konnte ihm aber trotzdem nicht ausweichen. Der Polizist traf ihn voll in die Rippen. »Die Uhr!«, befahl er noch einmal. »Oder willst du sterben?« Er trat mit seinem Stiefel nach Hesmat, dann nahm er sich seinen Lohn, bevor er sie in den Zug stieß.

    Ein paar Stationen vor Duschanbe hatten sie sich endlich aus dem Zug schleichen können. Ein junger Mann hatte sie gewarnt: »Sie werden auf euch warten. Ihr glaubt doch nicht, sie lassen euch einfach so gehen? Die Polizisten haben euch sicher angekündigt.« Er hatte die Wunden der Jungen gesehen und schien auch ohne ihre Erzählungen zu ahnen, was passiert war. »Ihr steigt besser mit mir aus«, sagte er leise, während die Polizisten, die im Zug mitfuhren, längst eingeschlafen waren. »Es wird keine Probleme geben«, sagte er, »niemand wird sich groß aufregen.«
    Der Plan war so verrückt und funktionierte so problemlos, dass sie es kaum glauben konnten. Niemand hatte sich umgedreht, als die beiden Jungen mit dem Mann aus dem Zug stiegen. Die Polizisten hatten nicht einmal geblinzelt, als der Zug stehen geblieben war und sich die Türen öffneten. Der Fremde hatte ihnen schließlich noch eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt organisiert, und als es dunkel war, klopften sie wieder an Hanifs Tür.
    Hanifs Frau erschrak, als sie ihren Neffen und Hesmat wiedersah. Sie schrie nach Hanif, der sich sofort um die beiden kümmerte. Als er die Blutergüsse auf Hesmats Brustkorb bemerkte, wurde er wütend.
    »Wo ist dieser Scheißkerl?«, fluchte er. »Ihr bleibt jetzt erst mal hier und erholt euch. Ich kümmere mich um diesen Bachtabat.«
    »Drei Tage«, seufzte Hesmat. »Verdammt, eigentlich wären wir schon in Moskau.«
    Fahid war sofort eingeschlafen. Woher nahm er nur seine Gelassenheit?, fragte Hesmat sich und tastete nach seinem Handgelenk. Er hatte das letzte Andenken an seinen Vater verloren. Was hatte er getan, dass die Götter sich so gegen ihn verschworen hatten? Jedes Mal wenn er wieder Hoffnung schöpfte, kam
alles noch schlimmer. Er hatte sich geschworen gehabt, nie wieder an eine Rückkehr nach Mazar zu denken, aber inzwischen quälte ihn der Gedanke Nacht für Nacht.
    Es dauerte drei Wochen, bis ihre Wunden und Blutergüsse verheilt waren. Drei Wochen, in denen das Frühjahr längst in den Sommer übergegangen war und Duschanbe unter der Hitze stöhnte. Die Stadt lag wie eine Bratpfanne zwischen den Bergen und jeden Tag legte scheinbar jemand Feuer nach. Es war unerträglich.
    »Das ist noch gar nichts«, lachte Hanif. »Warte, bis es Sommer ist, dann sind 40 Grad ganz normal.«
    Sie gingen kaum aus dem Haus, das eines der wenigen mit einer funktionierenden Klimaanlage war. Selbst wenn der Strom in der ganzen Stadt ausfiel, sprang ein riesiger Generator im Garten ein.
    »Du wirst dich verkühlen«, warnte Fahids Tante ihn, »du darfst dich nicht direkt vor die Klimaanlage setzen.«
    Aber Hesmat war dermaßen von der Maschine, die den Winter in den Raum zauberte, beeindruckt, dass er so lange sitzen blieb, bis er tatsächlich mit einer Erkältung und Fieber im Bett lag. Fahid leistete ihm Gesellschaft, während Hesmat sich auskurierte, dabei fernsah und ein paar Wortfetzen der russischen Sendungen entschlüsselte. Zufrieden stellte er fest, dass der Unterricht seiner Mutter gar nicht schlecht gewesen war. Irgendwann hatte ihm sein Vater ein altes russisches Schulbuch mitgebracht. Lange hatte er darin geblättert, ohne zu verstehen, was die fremden Schriftzeichen bedeuteten. Schließlich hatte sich seine Mutter zu ihm gesetzt und begonnen, Wort für Wort zu entziffern. Er lernte schnell, und als sein Vater wenige Tage später zurückkam, flog ihm sein Sohn in die Arme und begrüßte ihn auf Russisch. Sein Vater hatte gelacht.

    Wenn der Fernseher nicht lief, spielten Hesmat und Fahid Karten oder stritten sich über Belanglosigkeiten.
    »Du kannst dich immer noch entschließen hierzubleiben«, bot Fahids Tante ihm an. »Wir schicken dich auf eine Schule, sagen, du wärst unser Sohn, und alles wird gut. Du kannst später auch noch weiter. Überleg es dir wenigstens.«
    In dem Tempo, in dem seine Wunden heilten und die Blutergüsse verschwanden, regte sich jedoch auch neuer Mut in seinen Knochen. »Ich kann nicht bleiben«, sagte er. »Es ist zu nahe an Afghanistan, es erinnert mich zu viel an zu Hause, außerdem habe ich es meiner Mutter

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