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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Mann fort. »Was glaubt ihr, wie viele Leute in dem Zug versteckt waren? Zwei? Hättet ihr mehr bezahlt, wärt ihr schon in Termez. Es ist immer dasselbe Spiel. Sie durchsuchen den Zug, kennen die meisten Verstecke, holen sich zwei, drei raus, kassieren vom Schaffner ihr Schmiergeld und ziehen wieder ab. Ihr seid schöne Idioten!«
    Egal wie sehr er sich bemühte, erwachsen zu erscheinen, sobald ihm die Tränen kamen, wusste jeder, dass es das Weinen eines Kindes war. Der Polizist hatte viele Kinder weinen sehen. Kinder, die mit ihren Müttern weinten; Kinder, die wegen ihrer Mütter weinten; Kinder, die weinten, weil sie keine Mutter mehr hatten.
    »Euer Weinen beeindruckt mich schon lange nicht mehr«, sagt der Polizist. »Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst. Im Gefängnis werdet ihr genug Zeit haben.«
    Da war das Wort: Gefängnis. Es klang wie eine Verurteilung zum Tode. Gefängnis bedeutete Leiden, Qualen, den Tod.
    »Unschuldige kommen nicht ins Gefängnis«, hatte sein Großvater gesagt, »stehle nichts und du brauchst keine Angst vor Gott und König haben.«
    »So ein Blödsinn«, hatte sein Vater widersprochen, »sie stecken jeden ins Gefängnis, der ihnen nicht passt.«
    Wer im Gefängnis war, hatte etwas verbrochen, war ein Verbrecher, war einer jener Menschen, die seine Mutter verachtete.

    »Aber ich habe nichts verbrochen«, schluchzte Hesmat. »Ich will doch nur nach Moskau. Ich habe nichts getan.« Man konnte ihn doch nicht einfach einsperren, nur weil er von Afghanistan wegwollte. »Ich habe nichts getan«, wiederholte er immer wieder.
    Zwei Monate, hatte der Polizist gesagt, »und sei froh, dass wir dich nicht noch länger einsperren«.
    Er schluckte seine Tränen hinunter. Diese Feiglinge, die zwei Kinder ins Gefängnis warfen, sollten ihn nicht weinen sehen. »Sie tun mir unrecht«, sagte er mit all dem Stolz, der ihm noch geblieben war. »Sie haben nicht das Recht, mich einzusperren. Ich bin ein Kind.«
    Der Polizist zuckte nur mit den Schultern. »Wie du meinst«, sagte er.
    Am nächsten Morgen brachten sie die beiden Jungen zurück auf den Bahnsteig, wo sie sie in den Zug zum Gefängnis steckten. Noch immer waren ihnen die Hände auf den Rücken gefesselt, und wenn einer von ihnen auf die Toilette musste, führte sie ein Bewacher zu einem verdreckten Loch im Zugboden und sah ihnen zu, wie sie ihre Notdurft mit gefesselten Händen erledigten, bevor er sie wieder in das Abteil zurückbrachte, wo sie von den anderen Mitfahrenden angestarrt wurden.
    »Sie geben uns die Schuld für die vielen Kontrollen«, glaubte Fahid. »Wegen Menschen wie uns ist die Polizei so streng.«
    »Blödsinn«, entgegnete Hesmat. »Die Kontrollen sind wegen der Drogen. Was glaubst du, was die alles in ihren Taschen schmuggeln? Wenn wir nicht wären, würden sie auch nicht weniger oft kontrolliert.«
    In Termez warteten sie vier Stunden, zusammengebunden wie Kühe, am Bahnsteig sitzend auf den Abtransport ins Gefängnis. Zeit genug, um weitere Blicke voller Verachtung auf sich zu ziehen.

    »Zeit genug, um noch mehr Angst zu bekommen«, sagte Fahid.
    Beide kannten sie Gefängnisse nur von den Erzählungen aus Afghanistan. Immer wieder waren dort Männer über Nacht verschwunden und erst Wochen später halb tot wieder aufgetaucht. Viele waren überhaupt nicht zurückgekehrt.
    Sie hatten auf der Polizeistation einen Vorgeschmack darauf bekommen, was sie erwartete, aber Fahids Optimismus war wie immer nicht kleinzukriegen.
    »Wir werden uns sicher total langweilen«, sagte er. »Glaubst du wirklich, sie sperren Kinder ein?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Hesmat. »Wir sind nichts wert, warum sollte sich jetzt plötzlich jemand um uns kümmern?«
    Seit der Abreise hatten sie nichts mehr gegessen, und als sie in Termez aus dem Zug gestiegen waren und den Polizisten auf der Wache ein Huhn hatten essen sehen, hielten sie es nicht mehr aus.
    »Wir sind hungrig«, protestierte Fahid.
    Der Mann blickte wortlos auf und stopfte sich ein weiteres Stück Hühnchen in den Mund. Mit seinen fettigen Fingern schob er ihnen den Teller mit den Knochen hin.
    »Ich bin doch kein Hund«, protestierte Hesmat. »Was soll ich mit den Knochen?«
    »Du bist ein Gefangener, sonst nichts«, sagte der Mann.
    »Ich habe Hunger!«
    »Hast du Geld? Wenn nicht, dann seid still!«
    Als sie im Wagen zum Gefängnis saßen, verstummte sogar Fahid.

IM GEFÄNGNIS
    »Die Regeln sind einfach«, sagte der Wärter, der sich auf dem Gefängnishof vor ihnen aufgebaut

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