Hesmats Flucht
die Schläge, aber Bachtabat wehrte seine harmlosen Faustschläge ab wie lästige Fliegen.
»Hör auf!«, schimpfte der Schlepper. »Ich kann nichts dafür! Ihr macht mir mehr Arbeit als alle anderen zusammen. Jetzt reißt euch zusammen!«
Im Schritttempo war Fahid über den Platz geschlurft. Es tat weh, dem kranken und müden Körper zuzusehen, wie er sich in der Hitze quälte.
»Ab morgen wird alles besser«, sagte Bachtabat leise. »Ihr kommt raus!«
»Du hast uns im Stich gelassen!«, schrie Fahid. »Warum kommst du erst jetzt, vier Wochen zu spät?«
Ein Polizist fuhr mit ihnen in die Stadt bis zum Bahnhof. Sie trotteten hinter dem Polizisten her wie zwei geprügelte Hunde, die der Mann in der Stadt ausführte.
»Eis?«, fragte der Polizist plötzlich ganz freundlich.
Beide lachten. Er hatte von den Gemeinheiten wohl noch nicht genug.
»Eis?«, fragte er noch einmal. Es war ihm ernst, und das Eis schmeckte wie der Himmel, wie eine kühle Wolke voller Regen, die sie aussaugten. Langsam zerrann es in ihren Fingern, die sie abschleckten wie Katzen.
Bachtabat wartete in einem Café auf die Jungen und schüttelte dem Polizisten noch einmal zum Abschied die Hand. Hesmat hasste ihn, trotzdem war er der einzige Mensch, den er hier außer Fahid kannte.
»Der Schaffner hatte Angst und hat mir nicht gemeldet, dass sie euch festgenommen haben«, sagte Bachtabat. »Erst als euer Onkel nachfragte, sind wir darauf gekommen. Dann bin ich gleich mit dem nächsten Zug an die Grenze, um euch zu suchen. Aber niemand wollte dort etwas von euch gehört haben. Glaubt mir!«
»Und wie bist du dann doch hierhergekommen?«, fragte Fahid ärgerlich, der wie Hesmat nicht so recht an die Geschichte glaubte.
»Irgendjemand hat mir erzählt, dass ihr im Gefängnis in Termez sitzt.«
»Und das sollen wir dir abnehmen?«, fragte Fahid wütend. »Du warst doch froh, dass du uns los bist! Warte nur, bis ich das meinem Onkel erzähle!«
»Jetzt hör aber auf«, sagte Bachtabat, »ihr müsst mir glauben! Sie haben euch nirgends gemeldet, auch jetzt taucht ihr noch nirgends auf. Wie hätte ich euch denn schneller finden sollen?«
Die beiden wussten, wer in Wirklichkeit hinter der Suche steckte. Wäre Hanif nicht gewesen, hätte Bachtabat sie im Gefängnis verrecken lassen. Er hätte keinen Gedanken an sie verschwendet. Die Suche diente nur seinen eigenen Interessen. Hätte er sie nicht gefunden, hätte er Hanifs Zorn zu spüren bekommen.
Schließlich brachte Bachtabat sie bei einem Freund nahe dem Bahnhof unter. Die ersten Tage schliefen sie dort die meiste Zeit und standen nur auf, wenn sie Hunger hatten. Das Schönste waren zwei neue Flaschen mit frischem Wasser, die ihnen Bachtabat am nächsten Tag brachte. Fahid bekam Medikamente und nach einer Woche war er fast wieder der gut gelaunte Optimist.
»Weißt du eigentlich, wie viel Glück wir schon gehabt haben?«, fragte er.
Fünf Tage später ging es endlich weiter.
»Übermorgen fährt der nächste Zug«, sagte Bachtabat. »Diesmal wird alles anders.«
Am Nachmittag gingen sie ein letztes Mal hinunter zur Brücke der Freundschaft und blickten über den mächtigen Grenzfluss hinüber in ihre alte Heimat. Mazar lag nur ein paar Autostunden von hier entfernt. Was sie trennte, war die Front.
Alles wäre so einfach ohne den Krieg, dachte Hesmat. Er hatte den langen Umweg über die Berge, über Hodscha-Bahaudin und Duschanbe in Kauf nehmen müssen und nach acht Wochen war er trotzdem nur ein paar Autostunden von Mazar entfernt. Sein Vater war vor Jahren über diese Brücke gefahren. Immer wieder war er in Termez gewesen, wo die Russen mit fast 100 000 Soldaten stationiert gewesen waren. Er hatte ihm nie viel über die Stadt erzählt, immer nur von dieser Brücke.
Eine Brücke zwischen zwei Welten, über die jetzt kein Fahrzeug mehr fuhr. Dort drüben war der Feind. Dort drüben waren die Männer, die seinen Vater getötet hatten. Dort drüben war die Familie, die ihn nicht wollte. Dort drüben war alles, was er hasste. Dort drüben lag seine tote Mutter in einem Grab, das er nicht kannte. Die Erinnerung holte ihn ein, und er begann, Fahid von seiner Mutter zu erzählen.
Irgendwann war sie immer schwächer geworden. Sie hatte stark abgenommen und selbst die leichtesten Arbeiten bereiteten ihr große Mühe. Schnell war sie außer Atem, musste sich setzen und sich die Schweißperlen von der Stirn wischen.
»Es ist nichts«, sagte sie immer wieder. Sie versuchte, ihm seine Angst
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