Hesmats Flucht
zu nehmen. Dann kam der Husten. Es war schrecklich, wenn dieser zarte Körper vom Husten gebeutelt wurde, und ihr Atem klang oft, als würde man durch einen löchrigen Schlauch blasen.
Immer wieder hatten sie und ihr Mann die Krankheit verdrängt, hatten darauf gehofft, dass sich ihre Lunge erholen würde. Doch sie spürte das Fortschreiten der Krankheit auch ohne Röntgenbilder und Diagnosen. Sie wusste, dass sie sterben würde. Sie hatte keine Angst davor.
Was ihr Angst und Sorgen bereitete, war die Zukunft ihrer Kinder, vor allem die Hesmats. Er war dünn und zart und im Gegensatz zu seinem kräftigen jüngeren Bruder hasste ihn sein Großvater. Wie sollte er im Leben zurechtkommen, in einem Land, in dem Bildung nichts wert war und nur das Morden und die Gewalt zählten? Sie besorgte am Schwarzmarkt teure Schulbücher und lehrte Hesmat das, was er eigentlich in der Schule hätte lernen sollen. Sie wusste, dass die Zeit drängte. Sie fühlte sich von Monat zu Monat schwächer. Die Schmerzen wurden unerträglich. Jede Arbeit wurde zur unlösbaren körperlichen Herausforderung und außer Hesmat wollte ihr
niemand aus der Familie helfen. Oft gab es deswegen Streit zwischen ihrem Mann und seiner Familie, die kostenlos in seinem großen Haus lebte.
Hesmat ging nicht mehr zur Schule. Die Radikalen hatten sich der Schulen bemächtigt und sein Vater hielt ihren Unterricht für wertlos. »Deine Mutter braucht dich jetzt zu Hause«, hatte er gesagt.
Sie hatte stark abgenommen und bestand fast nur noch aus Haut und Knochen, lediglich ihr Gesicht war von den Medikamenten rundlicher geworden. Wenn es der Husten zuließ, schloss sie die Augen und schlief für ein paar Stunden. Die meiste Zeit jedoch röchelte sie und kämpfte um Luft. Ihre wunderschöne weiße Haut hatte sich verfärbt und spannte sich beinahe bläulich über die brüchigen Knochen. Sie weinte, wenn sie sah, wie ihr Sohn das Haus sauber zu halten versuchte und wie er sich Mühe gab, seine Angst um sie zu verbergen.
Die Bewegungen seiner Mutter waren langsam und bereiteten ihr Schmerzen, als sie sich kurz vor ihrem Tod auf ihrer Matte aufrichtete und Hesmat bat, sich zu ihr zu setzen. Ihre Hand war so leicht geworden, dass er sie kaum noch spürte, wie sie ihm über seinen Kopf, seine Hände und das Gesicht strich.
»Ich kann dir die Angst nicht nehmen«, sagte sie. »Aber weine nicht. Ich bin es, die weinen muss. Ich kann dich nicht weiter beschützen, aber glaub mir, ich werde immer bei dir sein. Egal, wohin du gehst, egal, was du machst, ich bin in deiner Nähe.«
Hesmat spürte, wie ihre Tränen sein Haar benetzten.
»Du musst mir eines versprechen«, sagte sie. »Lass dich nicht von diesen Menschen leiten. Lass dir nie verbieten zu lernen. Das musst du mir versprechen. Lerne, so viel du kannst. Du kannst mir nicht mehr helfen, aber vielleicht wirst du irgendwann
Arzt und kannst anderen Menschen helfen, denen es nicht besser geht als mir. Lerne und sei auf der Hut. Und sobald du alt genug bist, musst du aus diesem Land verschwinden. Versprich mir das!«, sagte sie, und ihre Hände schlossen sich mit aller Kraft, die sie noch besaß, um seine Schultern. »Dein Vater wird dir helfen, ganz sicher.« Sie versuchte zu lachen und strich ihm über die Hände, die sie drehte und von allen Seiten bewunderte wie ein Kunstwerk. »Mein großer Sohn, ein Arzt.«
Hesmat hörte zu und weinte. Er wollte ihr doch noch so viel sagen, er hatte noch so viele Fragen, auf die er die Antworten nicht kannte. Sie hatte ihm so viel beigebracht, und trotzdem hatte er das Gefühl, noch nichts verstanden zu haben. Was sollte aus ihm und seinem kleinen Bruder werden? Seine Mutter war sein Paradies. Sie liebte ihn und er spürte diese Liebe. Er hatte verstanden, was Liebe bedeutete. Er wusste, dass man aus Liebe an einem gebrochenen Herzen sterben konnte. Er legte sich neben sie und merkte, dass sie eingeschlafen war. Was würde aus ihm werden? Wie sollte er es ohne ihre Hilfe schaffen? Mit den Zweifeln wurde die Angst noch größer. Er weinte und vergrub seinen Kopf in ihrem dunklen Haar. Das Haar war noch immer kräftig und lebendig. Ihre langen schwarzen Haare, die meist nach Rosenwasser geduftet hatten. Der Duft ließ ihn seine Sorgen vergessen und er schlief neben ihr ein.
Zwei Tage später war seine Mutter tot gewesen. Als ihn sein Vater morgens aus dem Haus schickte, um Brot zu kaufen, hatte sie so ruhig wie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Ihr Gesicht war entspannt, ihr
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