Hesmats Flucht
uns nicht als Gehilfen zu verkleiden«, überlegte Fahid.
»Schau uns doch an«, meinte Hesmat, »wir sehen aus wie Schweine! Wer sollte uns das glauben?«
»Sperr deine Augen auf, Kleiner!«, sagte der Schaffner wieder. »Der Zug ist doch voll mit Schweinen.«
Schließlich hatten sie sich doch die Hose und Kappe des Pervernik, eines Laufburschen im Zug, angezogen. Hesmat musste sich das Lachen verbeißen. Fahid sah aus wie ein Idiot, aber jetzt war nicht die Zeit für Scherze. Die Anweisungen des Schaffners waren klar. Der Zug hielt ein paar Kilometer vor Saratov, wo die Polizisten den ganzen Zug auseinandernehmen würden.
»Sie haben Hunde, Spiegel, einfach alles«, hatte der Schaffner gesagt. »In dem Versteck schafft ihr es nicht. Ihr seid meine Gehilfen, das ist nichts Besonderes. Wenn der Zug hält und sie mit der Kontrolle beginnen, steigt ihr aus wie alle anderen. Wenn euch jemand aufhält, sagt einfach, ihr holt Wasser für mich, und wenn ihr von den Leuten weg seid, lauft, so schnell ihr könnt.«
Im Schutz der Dunkelheit sollten sie um die Kontrollstelle herumlaufen und drei Kilometer weiter bei einem Bahnübergang warten.
»Dort fährt der Zug nach der Kontrolle noch ganz langsam«, sagte der Schaffner. »Dort könnt ihr aufspringen.«
»Der will uns wohl verarschen«, sagte Fahid. »Glaubst du ihm?«
Hesmat war unsicher. »Was bleibt uns anderes übrig?«
Sie sahen den mit riesigen Scheinwerfern hell erleuchteten Platz schon von Weitem. Sie sahen die Hunde, die vielen Kontrolleure, die Waffen und auch die Handschellen, die an ihren Gürteln baumelten.
»Raus jetzt«, befahl der Schaffner, »es geht los!«
Keiner achtete auf die beiden Gestalten mit den auffälligen Pervernik-Mützen und den viel zu großen Hosen. Ihre Herzen zitterten wie die leeren Plastikeimer, die sie zur Tarnung in den
Händen hielten. Nur nicht auffallen, ermahnte sich Hesmat immer wieder. Sie trotteten neben der ersten Gruppe Fahrgäste hinüber zum Posten, während ein bewaffneter Polizist jeden ihrer Schritte verfolgte. Als sie den Wasserschlauch sahen, bogen sie nach links. Die Blicke folgten ihnen.
Jeder Schritt fühlte sich an, als wäre Hesmat wieder in den Bergen. Alle Kraft war aus seinem Körper gewichen. Seine Füße zerflossen wie Wasser, alles zitterte, der Mund war trocken wie der heiße Wind, der alles noch schlimmer machte. Noch immer folgten ihnen die Blicke.
»Zehn Meter«, schätzte Hesmat leise, »noch zehn Meter.«
Dann plötzlich Geschrei.
»Geh weiter«, zischte Fahid. »Verdammt, Hesmat, geh weiter!«
Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, dass das Geschrei von der Gruppe kam, die sich bereits ein Stück abseits von ihnen befand. Ein Mann hatte sein Bündel fallen lassen, die Beamten befahlen ihm weiterzugehen, er wollte aber stehen bleiben und alles einsammeln und protestierte gegen die Behandlung der Polizisten.
»Wir sind keine Verbrecher«, schimpfte er und kniete sich hin, um sein Bündel in aller Ruhe wieder zusammenzupacken.
»Das ist unsere Chance«, flüsterte Fahid, »jetzt sind sie abgelenkt.«
Nur noch ein paar Meter und sie wären vorbei an der Lok, weg von den Scheinwerfern, endlich im Dunkeln.
Hesmat war sich nicht sicher, was zuerst kam. Das »Stopp!« oder der Schlag. Sie mussten nahezu zeitgleich gekommen sein. Er erinnerte sich noch an den kurzen Schmerz und das Fluchen: »Ihr verdammtes Saupack!« Dann wurde er bewusstlos.
Er sah den Zug, er sah die Leute einsteigen, er spürte den
Schmerz an seinem Hinterkopf. Er spürte den Luftzug. Er hörte die Stechmücken, die sich auf sein Ohr gesetzt hatten, und er sah die Gitterstäbe. Er schmeckte salzige Tränen und die Gitterstäbe verschwammen. Er hatte keinen Grund mehr, seinen Schmerz und seine Tränen zurückzuhalten. Wieder waren seine Hoffnungen enttäuscht worden, wieder sank ihm der Mut. Der Strick an seinen Handgelenken schnitt in seine Haut.
Erneut überprüften sie ihre Daten und nahmen ihre Fingerabdrücke. Immer wieder kamen die Fragen nach dem Woher und Wohin. »Wer sind eure Helfer?«, wollten sie wissen. »Wo sind die anderen? Zu wem wolltet ihr? Wer hat euch geholfen?«
Immer wieder dieselben Fragen. Fragen, auf die es keine Antworten gab, Antworten, die niemandem gefielen. Antworten, die sie wieder in eine Zelle brachten. Antworten, für die es nur schlechtes Essen gab. Antworten, mit denen niemand zufrieden war. Niemand wollte ihr Betteln hören, als der Mann sagte, dass sie wieder nach
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